Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
als einen Irrweg der Medizin.«
»Blutegel«, bemerkte Harrison.
»Schlimmer. Aber ich sehe, daß sie mit jedem Tag ein Stück ihrer Kraft zurückgewinnt.«
»Das ist doch wunderbar.«
»Ja, es geht ihr gut.« Bill hielt inne. »Wirklich gut.«
Und Harrison hörte im Nachdruck der Wiederholung eine Abwehr von Verzagtheit, hörte einen Mann, der sich ermahnte, nicht die Zuversicht zu verlieren. Bill goß einen halben Krug Sahne über die Beeren und streute Zucker darauf.
»Tolle Diät«, sagte Harrison.
»Ich hatte Angst, du wärst vielleicht wegen Jill und Melissa sauer.«
»Man denkt immer zuerst an die Kinder. Ich kann nicht behaupten, daß ich von Jill übermäßig hingerissen war.«
Bill schob sich auf seinem Stuhl nach vorn.
»Du bist nicht der erste, der mir das sagt. Es ist ein bißchen verblüffend, hinterher plötzlich zu hören, daß niemand die Frau gemocht hat, mit der man verheiratet war.«
»So habe ich es nicht gemeint«, sagte Harrison. »Ich fand nur nicht, daß ihr beide besonders gut zusammenpaßt.« Harrison beobachtete ein Paar, das sich an einen Tisch in der Nähe setzte. Beide, Mann und Frau, wirkten leicht benebelt, und Harrison dachte, daß auch sie am Abend zuvor zuviel getrunken hatten. Vermutlich gehörten sie zu der anderen Hochzeitsgesellschaft.
Bill trank einen großen Schluck Kaffee. »Wie geht es Evelyn?«
Harrison hatte das Gefühl, daß Bill die Frage mehr aus Höflichkeit als aus echtem Interesse stellte. »Es geht ihr gut«, sagte er. »Sie hat gerade einen großen Fall vor sich. Sonst wäre sie mitgekommen.«
»Und worum geht’s da?«
»Bei dem Fall? Habgier und menschliche Schwäche.«
Bill lächelte. »Danke, daß du aus Kanada heruntergekommen bist.«
»Ich glaube, es müßte herüber heißen, oder? Wie dem auch sei, ich freue mich, hier zu sein.«
»Für mich ist Kanada immer oben . Ein bißchen seltsam, diese ganze Sache, hm? Jerry? Agnes? Rob?«
»Sehr seltsam«, bestätigte Harrison. »Ich glaube, da sind gewisse Tücken von Zeit und Gedächtnis am Werk, die ich noch nicht ganz durchschaut habe.«
»Und Nora.«
»Und Nora«, sagte Harrison.
»Sie war rührend zu Bridget. Lieber Gott, Bridget hat aber auch eine Menge durchgemacht, und ich spreche jetzt nicht nur von ihrer Krankheit. Sie mußte damit fertig werden, daß ihr Mann sie verließ, und muß jetzt einen Fünfzehnjährigen großziehen. Matt ist ein netter Junge, aber er ist eben fünfzehn. Du weißt ja selbst.«
Harrison nickte.
»Ich habe so ein Glück«, sagte Bill.
Harrison sah von seinem Muffin auf. Er dachte über das Unglück nach, eine krebskranke Frau zu heiraten.
»Daß ich Bridget wiedergefunden habe«, erklärte Bill. »Ich wäre beinahe nicht zu diesem Klassentreffen gegangen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie mein Leben jetzt aussähe, wenn ich nicht hingegangen wäre.«
»Die vielen Dinge, die wir nicht erleben, ohne je zu erfahren, daß wir sie nicht erlebt haben«, sagte Harrison.
»Die versäumten Geschichten.«
»Nur weil man eine Minute länger als sonst braucht, um die Aktentasche zu finden, wird vorn an der Ecke ein fremdes Fahrzeug und nicht das eigene mit einem Laster zusammenstoßen.« Harrison biß von seinem Muffin ab und dachte an seine nächste Cholesterinuntersuchung.
»Nur weil man selbst die Party früher verlassen hat, ist man der Frau, die kein Taxi bekam, nie begegnet«, fügte Bill hinzu. »So betrachtet, ist das ganze Leben eine Folge von versäumten Geschichten.«
»Wir wissen nur nicht, was für Geschichten es sind«, sagte Harrison.
Bill kratzte die Sahne in seiner Schale zusammen. »Melissa kommt nicht zur Hochzeit.«
»Ja, das habe ich gehört.«
»Warum muß nur alles so kompliziert sein?« fragte Bill. »Wenn ich mit Bridget zusammen bin, habe ich nicht den geringsten Zweifel daran, daß ich das Richtige getan habe. Ich habe Bridget wiedergefunden, und wir sind zusammen. Basta.« Er wischte sich den Mund mit seiner Serviette. »Aber dann sehe ich Melissa, und mir ist hundeelend. Wie kann ein erwachsener Mann seinen Kindern so etwas antun?«
»Als ich Melissa das letzte Mal gesehen habe, war sie beinahe eine erwachsene Frau.«
»Du weißt schon, was ich meine.«
»Du mußt dich eben auf dein Bauchgefühl verlassen«, sagte Harrison, obwohl er absolut nicht sicher war, daß das tatsächlich seiner Überzeugung entsprach.
»Das tue ich schon eine ganze Weile«, versetzte Bill mit einem Blick zu seinem Bauch hinunter.
»Wie läuft
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