Eine Insel
übersehen, dass etwas nicht stimmte. Niemand war hier, niemand wusste, dass er am Ufer stand.
Er versuchte es trotzdem: »Hallo! Ich bin’s, Mau! Ich bin zurück!«
Dann weinte er, und das war noch viel schlimmer. Er hatte schon im Kanu geweint, aber das war nur Wasser gewesen, das ihm aus den Augen gelaufen war, und nur er wusste davon. Aber nun kamen die Tränen mit schweren Schluchzern, sie flossen ihm aus den Augen, der Nase und dem Mund, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Er weinte um seine Eltern, weil er Angst hatte, weil er fror und sehr erschöpft war und weil er sich fürchtete und es nicht mehr verbergen konnte. Aber am meisten weinte er, weil nur er davon wusste.
Im Wald war etwas, das ihn hörte. Und im verborgenen Feuerschein glänzte scharfes Metall.
Im Westen erstarb das Licht. Nacht und Tränen legten sich über die Nation. Und der Stern des Wassers schlich hinter den Wolken entlang wie ein Mörder, der heimlich den Schauplatz des Verbrechens verlässt.
2
Die neue Welt
Der Morgen war kaum heller als die Nacht. Mau fühlte sich, als hätte er gar nicht geschlafen, so zusammengerollt zwischen den überall am Boden verstreuten Kokospalmwedeln. Doch sein Körper und Geist mussten sich wohl immer wieder abgeschaltet und ein wenig den Tod geprobt haben. Er war steif und frierend im stumpfgrauen Licht erwacht – oder wieder lebendig geworden. Die Wellen am Ufer beugten sich kaum, und das Meer hatte fast die gleiche Farbe wie der Himmel. Noch immer regnete es Tränen.
Der kleine Fluss, der auf dem Berg entsprang, war mit Sand, Schlamm und Pflanzenresten verstopft. Er floss nicht mehr, auch nicht, als Mau mit bloßen Händen grub. Das Wasser versickerte nur. Schließlich musste Mau den Regen trinken, der von den Blättern tröpfelte. Er schmeckte nach Asche.
Die Lagune war voller zerbrochener Korallen, und die Welle hatte ein großes Loch ins Riff gerissen. Die Gezeiten hatten gewechselt, und nun strömte das Wasser herein. Die Kleine Nation, die kaum mehr als eine Sandbank am Rand der Lagune war, hatte alle Bäume verloren bis auf einen, der nur noch ein ausgefranster Stamm war, an den sich verzweifelt ein paar letzte Blätter klammerten.
Nahrung finden, Wasser finden, einen Unterschlupf finden – das waren die Dinge, die man an einem fremden Ort tun musste. Und dieser Ort war ihm fremd – obwohl er hier geboren war…
Mau erkannte sofort, dass das Dorf nicht mehr da war.
Die Welle hatte es von der Insel gespült. Ein paar Stümpfe markierten die Stelle, an der das Langhaus gestanden hatte. Es hatte dort gestanden, seit… seit Ewigkeiten. Die Welle hatte das Riff zertrümmert. Eine solche Welle hätte das Dorf gar nicht weiter bemerkt.
Er hatte gelernt, die Zeichen an einer Küste zu lesen, als er mit seinem Vater und seinen Onkeln unterwegs gewesen war. Als Mau nun aufblickte, sah er die Geschichte der Welle, die in den umgestürzten Felsbrocken und Bäumen geschrieben stand.
Das Dorf hatte sich nach Süden geöffnet. Es wäre gar nicht anders möglich gewesen. Die übrigen drei Seiten wurden von steilen, bröckelnden Klippen geschützt, darunter donnerten und schäumten etliche Brandungshöhlen. Die Welle war von Südost gekommen. Entwurzelte Bäume zeigten ihre Richtung an.
Alle mussten sich am Ufer aufgehalten haben, rund um das große Feuer. Hätten sie über dem Knistern der Flammen das Dröhnen der Welle gehört? Hätten sie verstanden, was es bedeutete? Wenn sie schnell reagiert hatten, wären sie nach oben ins Großschwein-Tal geflüchtet und hätten sich auf die höher gelegenen Felder gerettet. Doch ein Teil der Welle wäre bereits den östlichen Hang hinaufgerast – wo nur Grasland war und nichts sie bremsen konnte – und hätte die Menschen auf dem Rückweg erwischt.
Dann wäre die brodelnde Masse aus Steinen, Sand, Wasser und Menschen im Westen durch das Riff gebrochen, und die Strömung hätte alles gnadenlos in die Tiefe gerissen, wo die Menschen zu Delfinen geworden wären.
Aber nicht alle…
Die Welle hatte Fische, Schlamm und Krabben zurückgelassen – zum Entzücken der Schweinefußvögel und der grauen Raben und natürlich auch der Großvatervögel. An diesem Morgen war die Insel voller Vögel. Vögel, die Mau noch nie zuvor gesehen hatte, stritten sich mit denen, die ihm vertraut waren, um ihre Beute.
Und dann stieß er auch auf Menschen, im Gewirr der abgerissenen Äste hängend, halb unter Schlamm und Blättern vergraben – ein weiterer Teil der
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