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Eine Insel

Eine Insel

Titel: Eine Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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schaffen? Jungen durften sich nicht einmal in die Nähe ihrer Höhle wagen. Das war ihnen strengstens verboten.
    Aber die Jungen taten es trotzdem. Mau war acht gewesen, als er einer Gruppe älterer Jungs hinterher geschlichen war. Sie hatten gar nicht bemerkt, wie er ihnen den ganzen Weg gefolgt war – durch den oberen Wald bis zu den Wiesen, von wo aus man den Rand der Welt sehen konnte. Da oben nisteten die Großvatervögel, was der Grund war, warum sie so hießen. Die älteren Jungen hatten ihm erzählt, dass die Vögel die Spione der Großväter waren und sich auf ihn stürzen und ihm die Augen auspicken würden, wenn er ihren Nestern zu nahe kam. Doch er wusste, dass das nicht stimmte, weil er sie beobachtet hatte, und – solange kein Bier in der Nähe war – würden sie nichts angreifen, das größer als eine Maus war und sich womöglich wehren konnte. Manche Leute erzählen einfach jeden Blödsinn, wenn sie glauben, jemandem damit Angst einzujagen.
    Am Ende der Wiesen lag die Höhle der Großväter, ganz oben im Wind und im Sonnenlicht, mit Blick auf die weite Welt. Sie wohnten hinter einer runden Steintür, die sich nur von zehn Männern bewegen ließ. Und selbst wenn man hundert Jahre alt wurde, erlebte man vielleicht nur ein paarmal, wie sie geöffnet wurde, weil nur die besten Männer, nur die größten Jäger und Krieger, nach ihrem Tod zu Großvätern wurden…
    Als er damals den Jungen gefolgt war, hatte Mau durch das dichte Laub eines Grasbaums ihre gemeinsame Mutprobe beobachtet. Sie hatten sich dem Stein genähert, sich schließlich getraut, ihn zu berühren und ein wenig dagegenzudrücken – bis jemand rief, er hätte etwas gehört. Innerhalb weniger Sekunden waren sie zwischen den Bäumen verschwunden und rannten nach Hause. Mau hatte noch eine Weile abgewartet, und als sich nichts rührte, war er hinuntergestiegen und hatte am Stein gehorcht. Er hatte ein ganz leises Rascheln vernommen, doch dann erbrach sich oben auf den Klippen ein Großvatervogel  [1] .
    Hier gab es nichts Unheimliches.
    Niemand hatte je davon gehört, dass die Großväter aus ihrer Höhle gekommen waren. Der Stein war aus gutem Grund da.
    Und er war aus gutem Grund so schwer. Dann dachte er nicht weiter über das Geräusch nach. Wahrscheinlich waren es nur Insekten im Gras gewesen.
    Nachdem er am Abend dieses Tages in die Jungenhütte zurückgekehrt war, hatten die älteren Jungen vor den jüngeren geprahlt, wie sie den großen Stein zur Seite gerollt hätten. Angeblich hätten die Großväter ihnen die uralten, vertrockneten Gesichter zugewandt, um sie anzuschauen. Dann hätten sie versucht, sich auf die wackligen Beine zu erheben, woraufhin die Jungen dann (mit großem Mut) gerade noch rechtzeitig den Stein zurückgerollt hatten.
    Mau hatte in seiner Ecke gelegen und sich gefragt, wie oft diese Geschichte in den letzten paar hundert Jahren schon erzählt worden war, damit große Jungen sich tapfer fühlten und kleine Jungen Albträume bekamen und sich nass machten.
    Und nun, fünf Jahre später, saß er da und betrachtete verwundert das graue, runde Ding, auf dem das Obst gelegen hatte. Es sah aus wie Metall, aber wer besaß so viel Metall, dass er es für etwas verschwenden konnte, auf das man Nahrung legte?
    Es war mit Zeichen versehen. Sie bildeten den Schriftzug
Sweet Judy
in verblasster weißer Farbe, doch in diesem Moment hatten sie für niemanden eine Bedeutung.
    Mau war gut darin, wichtige Zeichen zu lesen. Er konnte das Meer, das Wetter, die Fährten von Tieren, Tätowierungen und den Nachthimmeliesen. In diesen weißen Strichen und Haken auf dem Metall gab es für ihn nichts zu lesen. Aber feuchten Sand konnte jeder lesen. Ein zehenloses Wesen war aus dem unteren Wald gekommen und wieder dorthin zurückgekehrt.
    Irgendwann in der Vergangenheit hatte etwas die Felsen der Insel gespalten und auf der Ostseite ein langes, flaches Tal hinterlassen, das nur knapp über dem Meeresspiegel lag. Dort gab es kaum Erdreich. Trotzdem hatten schon bald die ersten Pflanzen Wurzeln geschlagen, weil irgendwo immer etwas wuchs.
    Im unteren Wald war es ständig heiß, feucht und salzig, die stickige, juckende, dunstige Atmosphäre eines Ortes, wo nur selten frische Luft hinkam. Mau hatte sich ein paarmal ins Tal vorgekämpft, aber dort gab es nicht viel, was interessant war, zumindest nicht am Boden. Alles fand hoch oben im Blätterdach statt. Dort wuchsen wilde Feigen, die nur die Vögel erreichen konnten. Und während sie

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