Eine Insel
lief und schluchzend durch die grüne Tür in der Küche verschwand. Sie wusste, was zu tun war. In ihrer Phantasie hatte sie es schon tausendmal getan. Sie nahm den einsamen, kalten Körper aus seinem winzigen Sarg, küsste sein kleines Gesicht und legte ihn neben ihre Mutter. Das Weinen hörte auf…
… und sie blinzelte in Mrs. Gluckers leuchtende Augen, die nun wieder direkt vor ihr waren, und das Rauschen der Brandung drang an ihre Ohren. Die alte Frau wandte sich an Cahle und stieß einen rasselnden Schwall von Worten hervor, der wie eine lange Rede klang – oder vielleicht wie ein Befehl. Cahle wollte darauf etwas erwidern, aber die alte Frau hob streng einen Finger. Irgendetwas hatte sich verändert.
»Sie sagt, dass du ihn zurückholen musst«, erklärte Cahle missmutig. »Sie sagt, ein Schmerz sei endlich fortgenommen worden, dort am anderen Ende der Welt.«
Daphne fragte sich, wie weit diese dunklen Augen wohl blicken konnten. Am anderen Ende der Welt. Schon möglich. Wie hat sie das gemacht? Es hatte sich gar nicht wie ein Traum angefühlt, sondern eher wie eine Erinnerung! Und tatsächlich, ein Schmerz ließ nach…
»Sie sagt, dass du eine Frau mit großer Macht bist, genau wie sie«, fuhr Cahle widerstrebend fort. »Sie ist schon oft in der Schattenwelt gewandelt. Ich weiß, dass es stimmt. Dafür ist sie allseits bekannt.«
Mrs. Glucker schenkte Daphne ein leises Lächeln.
»Sie sagt, sie will dich in die Schatten schicken«, sprach Cahle weiter. »Sie sagt auch, dass du sehr gute Zähne hast und sehr freundlich zu einer alten Dame warst.«
»Äh… das war… kein Problem«, sagte Daphne und dachte verstört: Woher wusste sie davon? Wie hat sie das gemacht?
»Sie sagt, die Zeit reicht nicht, es dir beizubringen, aber sie kennt einen anderen Weg, und wenn du aus der Schattenwelt zurückkehrst, wirst du mit deinen wunderbar weißen Zähnen viel Fleisch für sie kauen können.«
Dabei grinste die kleine, alte Frau so breit, dass ihre Mundwinkel fast die Ohren berührten. »Das werde ich ganz bestimmt!«
»Also wird sie dich nun mit Gift töten«, fuhr Cahle fort. Daphne sah Mrs. Glucker an, die ihr aufmunternd zunickte.
»Das wird sie tun? Äh… wirklich? Ja dann, danke«, sagte Daphne. »Danke vielmals.«
Mau rannte. Aber er wusste nicht, warum. Seine Beine bewegten sich von ganz allein. Und die Luft war… keine Luft. Sie war zäher, ähnlich wie Wasser, und tiefschwarz, aber dennoch konnte er ziemlich weit sehen und sich darin auch sehr schnell bewegen. Riesige Säulen wuchsen um ihn herum aus dem Boden und schienen ewig weit hinaufzureichen, bis zu einem Dach aus Gischt.
Ein silbriges Etwas schoss blitzschnell an ihm vorbei und verschwand hinter einer Säule, und dann noch eins und noch eins.
Offenbar Fische – oder so was Ähnliches. Also war er unter Wasser. Und von unter Wasser blickte er zu den Wellen hinauf.
Er war in der Dunklen Strömung. »Locaha!«, rief er.
»
Hallo, Mau
«, sagte die Stimme von Locaha.
»Ich bin nicht tot! Das ist ungerecht!«
»
Ungerecht? Ich glaube, dieses Wort ist mir gar nicht bekannt, Mau. Außerdem bist du wirklich fast tot. Jedenfalls mehr tot als lebendig, und jede Sekunde stirbst du etwas mehr.
«
Mau versuchte, noch schneller zu laufen, doch er rannte bereits schneller als je zuvor in seinem Leben.
»Ich bin nicht müde! Ich kann ewig so weitermachen! Das ist irgend eine Art von Trick, nicht wahr? Selbst für einen Trick muss es Regeln geben!«
»
Stimmt
«, sagte Locaha. »
Und es ist wirklich ein Trick.
«
»Das hier ist doch sicher, nicht wahr?«, sagte Daphne. Sie lag auf einer Matte neben Mau, der immer noch reglos wie eine Puppe war, abgesehen von den zuckenden Beinen. »Und es wird auch funktionieren, nicht wahr?« Sie bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen, doch war es eine Sache, tapfer zu sein, und schon zwei Sachen, tapfer und entschlossen zu sein, besonders wenn es doch zunächst einmal nur eine Idee gewesen war. Und dann war es noch eine ganz andere Sache, wenn man aus den Augenwinkeln Mrs. Glucker dabei beobachten konnte, wie sie in der Ecke herumwerkelte.
»Ja«, sagte Cahle.
»Du bist dir auch ganz sicher, nicht wahr?«, sagte Daphne.
Meine Güte, wie armselig sie doch klang! Sie schämte sich dafür.
Cahle schenkte ihr ein Lächeln und ging zu Mrs. Glucker hinüber, die neben dem Feuer hockte. Verschiedene Körbe mit getrockneten… Sachen waren aus ihrer Hütte geholt worden, wo sie vermutlich
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