Eine Insel
Händen. Fledermäuse fielen aus dem Dachstuhl. Die Orgel fing von allein an zu spielen. Im Taufstein schwappte das Wasser. Alles in allem unterschied sich diese Predigt doch sehr von den Andachten des Pfarrers Fleblow-Poundup, der an guten Tagen seinen Gottesdienst in einer halben Stunde heruntermurmelte, derweil sein Schmetterlingsnetz und der Kollektenbeutel an der Kanzel warteten.
Als sie danach wieder nach Hause kamen, hatte ihre Großmutter in der Diele gestanden, tief Luft geholt und gesagt: »Nun denn!« Das war alles. Normalerweise neigten die Menschen dazu, sich in der Gemeindekirche möglichst leise zu verhalten.
Vielleicht hatten sie Angst davor, Gott aufzuwecken, der dann womöglich unangenehme Fragen stellte oder sie gar einer Prüfung unterzog.
Pilu jedoch hatte die Geschichte vom Hai ebenso fesselnd geschildert, wie Mr. Griffith predigte. Er hatte Bilder heraufbeschworen, lebendige Bilder. Stimmte die Geschichte?
Hatte es sich wirklich genauso abgespielt? Aber wie sollte es anders sein? Sie waren ja dabei gewesen. Sie hatten alles gesehen. Sie waren Teil davon.
Sie betrachtete Mau. Noch immer standen seine Augen offen, und sein Körper zuckte. Dann sah sie Cahle ins Gesicht, die sagte: »Locaha hat ihn gepackt.«
»Du meinst, er stirbt?«
»Ja. Locahas kalte Hand liegt auf ihm. Du kennst Mau. Er schläft nie. Er isst nicht genug. Er trägt jede Last, läuft jede Strecke. In seinem Kopf kreiseln zu viele Gedanken. Hat irgendwer auch nur einmal gesehen, dass er nicht gearbeitet, Wache gehalten, gegraben oder getragen hat? Er versucht, die ganze Welt auf seinem Rücken zu tragen! Und wenn solche Menschen schwach werden, eilt Locaha herbei.«
Daphne beugte sich zu Mau hinunter. Seine Lippen waren blau. »Du stirbst nicht«, flüsterte sie. »Du darfst nicht sterben.«
Sie schüttelte ihn behutsam, als ein Hauch über seine Lippen kam, leise wie das Niesen einer Spinne: »Geschii…« »Geschieht nicht!«, sagte sie triumphierend. »Hörst du?
Locaha hat ihn noch nicht erwischt! Sieh dir seine Beine an. Er stirbt nicht! In seinem Kopf rennt er!«
Cahle betrachtete aufmerksam Maus zuckende Beine und legte ihm eine Hand auf die Stirn. Ihre Augen wurden groß. »Ich habe von so etwas schon mal gehört«, sagte sie. »Das hat mit den Schatten zu tun. Aber es wird ihn trotzdem töten. Die Himmelsfrau wird wissen, was zu tun ist.«
»Und wo ist sie?«
»Du hast ihr das Fleisch vorgekaut«, sagte Cahle lächelnd.
Hinter ihr tauchte die Unbekannte Frau auf und starrte Mau entsetzt an.
»Mrs. Glucker?«, sagte Daphne.
»Sie ist sehr alt. Eine Frau mit großer Macht.«
»Dann sollten wir uns lieber beeilen!«
Daphne schob ihre Hände unter Maus Arme und zog ihn hoch.
Zu ihrem Erstaunen gab die Unbekannte Frau ihr Baby an Cahle ab und übernahm Maus Füße. Erwartungsvoll blickte sie zu Daphne.
Gemeinsam rannten sie den Hügel hinauf und ließen alle anderen hinter sich zurück. Als sie die Hütte erreichten, wartete Mrs. Glucker schon auf sie mit glänzenden, kleinen, schwarzen Augen.
Sobald sie Mau auf eine Matte gelegt hatten, veränderte sich die alte Frau.
Bis zu diesem Moment war Mrs. Glucker für Daphne ein eher seltsames Persönchen gewesen. Sie hatte das meiste Kopfhaar verloren, lief wie ein Schimpanse auf allen vieren und sah aus, als wäre sie aus alten Lederbeuteln zusammengenäht worden.
Außerdem war sie, offen gesagt, ausgesprochen gierig, wenn es ums Essen ging, und neigte zu äußerst undamenhaften Fürzen, obwohl daran in erster Linie wohl das Pökelfleisch schuld war.
Nun kroch sie vorsichtig um Mau herum und berührte ihn hier und dort. Sie horchte aufmerksam an seinen Ohren, hob abwechselnd seine Beine an und beobachtete interessiert, wie sie zuckten, fast als hätte sie eine neue Tierart entdeckt.
»Er darf nicht sterben!«, platzte es aus Daphne heraus, unfähig, die Spannung noch länger zu ertragen. »Er schläft einfach nur zu wenig! Er hält jede Nacht Wache! Aber man kann doch nicht an Schlafmangel sterben! Oder?«
Die uralte Frau bedachte sie mit einem breiten Grinsen und hob einen von Maus Füßen hoch. Langsam glitt sie mit ihrem stumpfen, schwarzen Fingernagel über seine zuckende Sohle und schien enttäuscht von dem zu sein, was auch immer sie dadurch in Erfahrung gebracht hatte.
»Er stirbt doch nicht, oder? Er darf nicht sterben!«, beharrte Daphne, als Cahle hereinkam. Vor der Tür drängten sich inzwischen schon ein paar Leute.
Mrs. Glucker ignorierte
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