Eine Insel
wahr?«
»
Wenn er schläft, träumt er weiter vom dunklen Wasser. Du musst ihn berühren. Ihn festhalten. Ihn wärmen. Lass ihn spüren, dass er nicht allein ist.
«
Es klang wie ihre eigene Stimme, doch die Worte ließen sie erröten. Sie spürte deutlich, wie die Hitze an ihrem Hals bis zu den Wangen aufstieg. »Das wäre unziemlich«, zischte sie, ehe sie sich auf die Zunge beißen konnte. Am liebsten hätte sie laut hinterhergeschrien: »Das war ich nicht! Das war die dumme Enkeltochter irgendeiner alten Frau!«
»
Wer also bist du?
«, sagte die Stimme aus dem Nichts. »
Ein Geschöpf, das spüren, aber nicht berühren kann? Hier? An diesem Ort? Mau ist allein. Er glaubt, dass er keine Seele hat, also baut er sich selbst eine zusammen. Hilf ihm. Rette ihn. Sag ihm, dass sich die dummen, alten Männer Irren.
«
»Die dummen, alt…«, sagte Daphne und musste nicht lange nachdenken. »Die Großväter?«
»
Ja! Hilf ihm, den Stein wegzurollen! Er ist das Kind einer Frau, und er weint!
«
»Wer bist du?«, fragte sie.
Die Antwort kam wie ein Echo zurück: »Wer bist du?« Dann verschwand die Stimme und hinterließ nicht einmal einen Schatten in der Stille.
Darüber muss ich nachdenken, dachte Daphne. Oder vielleicht auch nicht. Nicht jetzt, nicht an diesem Ort, vielleicht denkt man mitunter wirklich zu viel nach. Denn ganz gleich, wie sehr du danach strebst, eine Daphne zu sein, ist da immer auch deine Ermintrude, die dir über die Schulter schaut. Außerdem, fügten ihre Gedanken hinzu, ist Mrs. Glucker hier, und die konnte durchaus als Anstandsdame gelten, sogar eher als der bedauernswerte Captain Roberts, der ja obendrein tot war.
Sie kniete sich neben Mau auf seine Matte. Die Stimme hatte recht gehabt. Ihm liefen tatsächlich Tränen übers Gesicht, obwohl er tief und fest zu schlafen schien. Sie küsste seine Tränen weg, weil es sich einfach richtig anfühlte, und dann versuchte sie, einen Arm unter ihn zu schieben, was sich allerdings als recht schwierig erwies. Ihr Arm schlief ein und fing so fürchterlich an zu kribbeln, dass sie ihn wieder hervorziehen musste. So viel zum Thema Romantik. Also zog Daphne ihre eigene Matte näher heran, damit sie ohne allzu große Schwierigkeiten einen Arm über ihn legen konnte, während sie ihren Kopf auf den anderen betten musste. Das war zwar etwas unbequem, doch nach einer Weile suchte seine Hand nach ihrer und hielt sie behutsam fest. In diesem Moment sank sie trotz allen Unbehagens in einen tiefen Schlaf.
Mrs. Glucker wartete, bis sie ganz sicher sein konnte, dass Daphne schlief. Dann öffnete sie ihre Hand und betrachtete den kleinen silbrigen Fisch, den sie dem Mädchen aus dem Haar gezupft hatte. Er wand sich auf ihrer Handfläche hin und her.
Und dann verschluckte sie ihn. Es war nur ein Traumfisch, aber solche Dinge waren gut für die Seele.
Daphne erwachte, als das erste Licht der Dämmerung den Himmel rosa färbte. An ihrem Körper schmerzten Muskeln, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab. Wie hielten Ehepaare das nur aus? Es war ihr ein Rätsel.
Mau schnarchte leise und rührte sich kein bisschen.
Wie konnte man einem solchen Jungen helfen? Er wollte überall sein und immer alles machen. Also wird er wahrscheinlich weiterhin versuchen, mehr zu tun, als er sollte, und erneut Schwierigkeiten bekommen, woraufhin sie dann wieder alles in Ordnung bringen musste. Sie stieß einen Seufzer aus, der viel älter war als sie selbst. Natürlich war ihr Vater genauso gewesen. Oft hatte er ganze Nächte damit zugebracht, an Depeschen für das Außenministerium zu arbeiten, während ständig ein Diener bereitstand, der ihm Kaffee und Geflügelsandwiches brachte. Die Dienstmädchen hatten sich bereits daran gewöhnt, ihn morgens noch an seinem Tisch sitzend vorzufinden, im Tiefschlaf, mit dem Kopf auf einer Landkarte von Niedersidonien.
Ihre Großmutter pflegte solche Vorfälle naserümpfend mit Sätzen wie »Seine Majestät hat wohl keine anderen Minister, wie?« zu kommentieren. Aber nun konnte Daphne ihn verstehen. Genau wie Mau hatte er versucht, das Loch in seinem Innern mit Arbeit auszufüllen, damit es nicht von Erinnerungen überschwemmt wurde.
Für den Moment war sie froh, allein zu sein. Abgesehen vom Schnarchen, das Mau und Mrs. Glucker von sich gaben, waren nur der Wind und das Donnern der Brandung am Riff zu hören.
Für Inselverhältnisse galt das schon als Zustand absoluter Stille.
»Zeig uns deinen Schlüpfer!«, wehte es
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