Eine Insel
an der Wand gehangen hatten, und Daphne kannte inzwischen die Regel: Je heikler und gefährlicher das Zeug war, desto höher hing es. Diese Sachen hatten gewissermaßen schon auf dem Dach gelegen.
Als Cahle mit der alten Frau sprach, verhielt sie sich respektvoll wie ein Kind vor dem Lehrer. Mrs. Glucker hörte auf, an einer Handvoll von etwas zu schnuppern, das wie verstaubte Bohnenschoten aussah, und blickte zu Daphne hinüber. Weder ein Wink noch ein Lächeln. Sie war bei der Arbeit. Aus ihrem Mundwinkel drangen ein paar Worte, und dann warf sie alle Schoten vor sich in den kleinen dreibeinigen Kochtopf.
Cahle kam zurück. »Sie sagt, sicher sein heißt nicht Sicherheit haben. Es gibt keine absolute Sicherheit. Du kannst es nur tun oder nicht tun.«
Ich war am Ertrinken, und er hat mich gerettet, dachte Daphne. Wieso habe ich bloß so blöd gefragt?
»Macht es so sicher wie möglich«, sagte sie. »Und noch ein wenig mehr.« Von der anderen Seite der Hütte grinste Mrs. Glucker ihr zu. »Darf ich noch eine Frage stellen? Wenn ich… du weißt schon, da bin, was soll ich dann tun? Gibt es irgend etwas, das ich sagen sollte?«
»Tu, was das Beste ist«, lautete die Antwort. »Und sag das Richtige.« Und das war auch schon alles. Mrs. Glucker war offenbar keine Freundin von langen Erklärungen.
Als die alte Frau mit einer Austernschale angehumpelt kam, sagte Cahle: »Du musst die Schale auslecken und dich hinlegen. Wenn der Wassertropfen auf dein Gesicht fällt… wirst du aufwachen.«
Mrs. Glucker legte die Schale behutsam in Daphnes Hände und hielt eine kurze Ansprache.
»Sie sagt, du wirst zurückkommen, weil du sehr gute Zähne hast«, übersetzte Cahle.
Daphne betrachtete die halbe Muschel. Sie war mattweiß und bis auf zwei kleine grünlich gelbe Kleckse leer. Für so viel Arbeit sah das Ergebnis allerdings recht dürftig aus. Sie hob die Auster zum Mund und schielte zu Cahle. Die Frau hatte eine Hand in eine Kalebasse mit Wasser gesteckt und hielt sie nun hoch über die Matte, auf der Daphne lag. Sie sahen einander an.
Ein Wassertropfen glänzte an ihrer Fingerspitze.
»Jetzt«, sagte sie.
Daphne leckte die Schale aus (es schmeckte nach nichts) und ließ sich zurücksinken.
Dann kam ein Augenblick des Schreckens. Noch bevor ihr Kopf die Matte berührte, löste sich der Tropfen von der Fingerspitze und fiel…
Sie wollten rufen: »Nein, das ist nicht genug Z…«
Dann tauchte sie in Dunkelheit, und über ihr donnerten die Wellen.
Mau rannte weiter, doch die Stimme Locahas klang immer noch sehr nahe.
»
Wirst du müde, Mau? Sehnen sich deine Beine nach Ruhe?
«
»Nein!«, sagte Mau. »Aber… diese Regeln… wie lauten sie?«
»
Ach, Mau… ich habe dir nur zugestimmt, dass es Regeln geben muss. Das bedeutet nicht, dass ich sie dir verraten werde.
«
»Aber du musst mich fangen, nicht wahr?«
»
Mit dieser Vermutung liegst du richtig
«, bestätigte Locaha.
»Was bedeutet das?«
»
Du hast richtig geraten. Bist du dir auch wirklich ganz sicher, dass du nicht müde wirst?
«
»Ja!«
Und tatsächlich floss immer neue Kraft in Maus Beine.
Er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Die Säulen rauschten nun immer schneller an ihm vorbei. Er überholte die Fische, die vor ihm flüchteten und silbrige Spuren hinterließen. Und am dunklen Horizont war Licht zu sehen. Es könnten Gebäude sein, so weiß und groß wie die Bauwerke, die Pilu in Port Mercia gesehen hatte. Wieso gab es hier unten solche Gebäude?
Etwas Weißes huschte unter seinen Füßen vorbei. Mau warf einen Blick nach unten und wäre vor Schreck fast gestolpert. Er lief über weiße Steinblöcke. Sie waren kaum zu erkennen, weil er so schnell war, und er wollte auch keinesfalls langsamer werden, doch sie schienen genau die richtige Größe für Gottesanker zu haben.
»
Das ist wunderbar, einfach wunderbar
«, sagte Locaha.
»Mau, hast du dir schon einmal überlegt, ob du möglicherweise in die falsche Richtung rennst?«
Zwei Stimmen hatten diese Worte gesprochen, und plötzlich wurde er von hinten gepackt.
»Hier entlang!«, schrie Daphne ihm ins Ohr und zerrte ihn den Weg zurück, den er gekommen war. »Warum hast du mich nicht gehört?«
»Aber…«, begann Mau, der sich verrenkte, um die weißen Gebäude nicht aus den Augen zu verlieren. Aus ihnen schlängelte sich etwas empor, das wie Rauch aussah… vielleicht war es aber auch nur Seetang, der sich in der Strömung bewegte… oder ein Rochen, der auf sie
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