Eine Jungfrau Zu Viel
blöd.«
»Cloelia, mir ist es egal, wenn du glaubst, die Staatslotterie sei eine abgekartete Sache, aber verrate niemandem, dass ich das gesagt habe.«
»Keine Bange. Marius und ich haben beschlossen, niemandem zu sagen, dass wir dich überhaupt kennen.«
»Du hältst deinen Onkel Marcus für einen Halunken?«, fragte Helena und tat so, als wäre sie schockiert. Cloelia schaute selbstgefällig. »Du hast dich mit Gaia Laelia angefreundet, nicht wahr?«
Über das Gesicht meiner Nichte huschte ein verächtlicher Ausdruck. »Eigentlich nicht. Sie ist erst sechs!«
Da vertat man sich leicht. Für Erwachsene waren die kleinen Mädchen eine geschlossene Gruppe. Doch sie rangierten im Alter von sechs bis zehn, und innerhalb der Kinderhierarchie bestanden da breite Klüfte.
»Aber du hast doch mit ihr gesprochen?«, fragte Helena.
»Sie fühlte sich einsam. Nachdem wir alle gesehen hatten, dass sie bevorzugt wurde, wollten die anderen Mädchen nicht mehr mit ihr sprechen. Natürlich«, fuhr Cloelia fort, »hätten einige sie, wenn sie darüber nachgedacht hätten, regelrecht belagert. Sie hätte sehr beliebt sein können. Aber dann wurden ihre Mütter hochnäsig und ließen ihre kleinen Lieblinge nicht mehr aus den Augen.«
»Deine Mutter nicht?«
»Ich bin ihr ausgewichen.«
Helena und ich tauschten einen raschen Blick aus. Auf dem Forum Boarium waren wir langsamer gegangen, kamen aber jetzt an der Basilica Julia vorbei und mussten uns den Weg durch die Menschenmenge bahnen, die sich bereits in einem Dunstschleier aus zu üppig aufgetragener Haarpomade auf den Stufen drängte.
Ich beschloss, ganz offen zu sein. »Cloelia, deine Mutter hat dir wahrscheinlich gesagt, dass der kleinen Gaia möglicherweise was zugestoßen ist, und was Gaia dir erzählt hat, könnte mir vielleicht helfen, ihr zu helfen.«
»Wir haben nur vestalische Jungfrauen gespielt.« Cloelia hatte ihre Antwort bereits parat. »Sie wollte andauernd so tun, als würde sie Wasser aus der Quelle der Egeria holen und den Tempel damit besprenkeln, wie die Jungfrauen das machen. Sie hörte gar nicht mehr damit auf. Ich fand das ziemlich langweilig.«
»Hat sie davor nicht einen kleinen Trotzanfall gekriegt, als sie auf dem Schoß der Königin saß?«
»Keine Ahnung.«
»Und du hast nicht gehört, worum es dabei ging?«
»Nein.«
»Glaubst du, Gaia war glücklich darüber, Vestalin werden zu dürfen?«
»Wahrscheinlich.«
»Hat sie was von ihrer Familie erzählt?«
»Ach, sie hat damit angegeben, wie wichtig sie alle sind.« Ich wartete. Cloelia überlegte. »Ich glaube nicht, dass sie viel Spaß haben. Als meine Mutter nach mir schaute, sah Gaia, wie Mama mir zugezwinkert hat. Gaia schien erstaunt zu sein, dass Mütter so was machen.«
»Ja, ich hab ihre Mutter kennen gelernt. Sie ist sehr ernst. Gaia hat wohl nichts davon gesagt, dass sie von zu Hause fortlaufen will?«
»Nein. Das erzählt man anderen nicht, sonst verhindern sie es.« Maia wäre entsetzt, wenn sie wüsste, dass Cloelia darüber nachgedacht hatte.
»Mag sein. Du glaubst also nicht, dass sie zu Hause Schwierigkeiten hatte?«
»Ich kann dir nichts mehr erzählen«, entschied Cloelia. Die Abruptheit, mit der sie die Befragung beendete, war viel sagend. Leider konnte ich meine achtjährige Nichte nicht gegen die Wand drücken und sie anbrüllen, ich wisse, dass sie lüge. Helena warf mir bereits finstere Blicke zu, und ich hatte zu viel Angst vor Maia.
»Na gut, vielen Dank, Cloelia.«
»Ist schon in Ordnung.«
»Maia hat Recht«, sagte Helena und funkelte mich streng an. »Du hättest um Erlaubnis bitten sollen, Cloelia zu befragen. Ich weiß, wie ich reagiert hätte, wenn es um Julia gegangen wäre.« Cloelia nickte zustimmend und verbündete sich so mit ihr.
»Nun macht mal einen Punkt, ihr beide. Ich bin kein völlig Fremder. Jetzt, wo Famia tot ist, bin ich Maia Favonias Haushaltungsvorstand …«
Helena brüllte vor Lachen, genau wie Cloelia. Und da reden die Leute immer von patriarchalischer Macht!
Ich wusste, wann ich besser den Mund hielt.
Außerdem hatten wir inzwischen den Tempel der Vesta erreicht. Zerstört in Neros großem Feuer, war er rasch wiederaufgebaut worden, immer noch nach dem alten Muster einer runden Hütte. Aber er war jetzt aus solidem Marmor errichtet, stand auf einem erhöhten, über Stufen erreichbaren Podest und war von den berühmten Säulen und dem geschnitzten Gitterwerk umgeben. Rauch stieg vom heiligen Feuer durch ein Loch im
Weitere Kostenlose Bücher