Eine Jungfrau Zu Viel
runden Dach auf. Momentan waren die Tempeltüren geöffnet. Prätoren, Konsuln und Diktatoren opferten vor dieser Flamme, ehe sie ihr Amt übernahmen, aber ein bloßer Geflügelprokurator musste schon eine verdammt gute Ausrede haben, wenn er es wagte, sich dem Heiligtum zu nähern.
Im Tempel gab es, wie ich wusste, kein Abbild der Vesta, nur die Herdstelle, die das Leben, Wohlergehen und die Einheit des römischen Staates verkörperte, beschattet von einem heiligen Lorbeerbaum. Dann gab es noch das Palladium, ein merkwürdiges Kultbild, das laut manchen Athene/Minerva darstellen sollte, obwohl andere das bezweifelten. Was immer es auch sein mochte, das Palladium galt als Talisman, der Rom beschützte, und seine Bewachung war eine den Jungfrauen anvertraute Hauptaufgabe. Da die Öffentlichkeit durch eine gemauerte Einfriedung von ihm fern gehalten wurde, bestand kaum die Chance, dass ein geschickter Dieb den kostbaren Talisman entwendete. Man konnte das Ding auch nicht verkaufen. Papa hatte mir mal erzählt, dass das Palladium als Sammlerstück keinen Wert hatte, weil niemand wusste, wie es aussah.
Als wir ankamen, widmeten die Vestalinnen sich ihren Aufgaben. Sie waren natürlich eine zu wenig, würden erst durch die morgige Lotterie wieder vollständig sein. Fünf Jungfrauen, angeführt von der tränensäckigen Obervestalin, die aussah, als würde sie in letzter Zeit unter Hitzeschauern leiden, versahen ihren Dienst in ihren altmodischen weißen Wollgewändern, unter der Brust von Gürteln mit Herkulesknoten gehalten, die kein Liebhaber je aufschnüren würde, das Haar zu einer komplizierten Brautfrisur hochgesteckt und mit Bändern und Borten geschmückt. Sie mussten die Flamme versorgen, da ihr Erlöschen als böses Omen für die Stadt galt. Sollte das geschehen, würde der Pontifex Maximus sie auspeitschten, momentan Vespasian, der für seine strikten Ansichten über traditionelle Werte bekannt war. Sie mussten ebenfalls tägliche Reinigungsrituale durchführen, darunter das Besprenkeln des gesamten Tempels mit Wasser aus der heiligen Quelle. (Eine von ihnen trat heraus, den Pferdehaarwedel in der Hand, mit dem sie dieses Ritual ausführten.) Später würden sie Salzkuchen für religiöse Zwecke herstellen. Sie würden Gebete sprechen und Opfern beiwohnen, immer mit verschleiertem Kopf.
Jede Vestalin wurde von einem Liktor begleitet. Da sogar der Liktor des Prätors sein zeremonielles Rutenbündel senken musste, wenn sich ihm eine der Jungfrauen näherte, waren die Liktoren der Vestalinnen berüchtigt für ihre Anmaßung. Die Maiden selbst mochten das einfache Leben einer Königstochter aus längst vergangenen Zeiten verkörpern, aber ihre modernen Aufpasser waren immer rasch dabei, anderen auf die Zehen zu treten. Diese Männer standen lässig auf dem äußeren, mit einer niedrigen Mauer versehenen Rundgang, den auch die Öffentlichkeit betreten durfte, obwohl das Misstrauen hervorrief, sogar wenn ein angesehener Prokurator, begleitet von seiner edlen Patrizierfrau und einem sittsamen Kind, das tat. Innerhalb des Komplexes befanden sich ein prunkvoller großer Schrein und der bewachte Eingang zum Haus der Vestalinnen. Es war ganz klar, dass ich keine Chance hatte, ins Haus oder an den Liktoren vorbei in den Tempel zu gelangen. Ich konnte nur mit meinen Frauensleuten dastehen und gottesfürchtig schauen, während die Jungfrauen aus dem Tempel direkt in ihr düsteres Haus marschierten. Cloelia trat mich, als eine der jungen Damen vorbeikam. Das war also Constantia.
Helena Justina stapfte dreist zum Eingangstor und verlangte vorgelassen zu werden. Sie erwähnte sogar, dass sie Informationen habe, die die am nächsten Tag stattfindende Lotterie beträfen. Ihr Name wurde von einem Bediensteten in dieser typisch bürokratischen Manier notiert, die bedeutet: Mach dir nicht die Mühe, zu Hause auf einen Boten zu warten.
Wir standen noch eine Weile rum und kamen uns vor wie vertrocknete Brötchen nach einem Fest. Schließlich beschlossen wir zu gehen. Diesmal nahmen wir den Weg über die lange Treppe, die zur Via Nova im tiefen Schatten des Palatin führt. Oben an der Treppe drehte ich mich um, weil der Blick auf das Forum in jedem Fall atemberaubend ist. Plötzlich packte mich Helena am Arm. Jemand kam jetzt aus einer Hintertür des Vestalinnenhauses. Eine kleine Gruppe, der ein Liktor voranging und in deren Mitte sich die Jungfrau befinden musste, die an diesem Tag dran war, Wasser aus Egerias Quelle für das
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