Eine Katze im Wolfspelz
Apothekers nicht lesen. Die Rechnungssumme betrug 11,60 Dollar.
Ich drehte sie um. Diesmal war es eine ganz andere Art Nachricht. Sie lautete: »Liebe Missy. Deine Reise nach Desolate Swamp wird angenehm sein, das verspreche ich Dir. Du darfst vorne sitzen. Du mußt nicht in eine Kiste. Und Du wirst so viel gehacktes Huhn bekommen, wie Du möchtest. Ohne Sesamsauce.«
Ich schob den Zettel von mir weg, in Richtung Tischmitte. Tony nahm ihn und las ihn. »Was zum Teufel meint sie damit? Das hier ist kein Songtext.«
»Das ist vielleicht das letzte, was sie in ihrem Leben geschrieben hat, Tony. Das allerletzte.« Wir schauten beide auf das kleine Stück schmutzigen Papiers.
»Na ja«, sagte Tony, »wenigstens weiß ich, was gehacktes Huhn ist. Das ist ein chinesisches Gericht. Das habe ich früher oft gegessen. Aber ich mochte es mit Sesamsauce. Welche Katze wäre nicht verrückt auf kaltes, kleingeschnittenes Huhn?«
Ich las den Zettel noch einmal. Missy würde eine Reise machen. Eine lange Reise, sonst wäre die Kiste nicht erwähnt worden. Und sie würde mit einem Auto oder einem Laster fahren. Und Jill hatte Missy versprochen, daß sie vorne würde sitzen dürfen, neben dem Fahrer. Ich erzählte Tony, was ich dachte. Erst war er derselben Meinung. Aber dann sagte er: »Nein. Falsch. Das ganze ist ein einziges Hirngespinst.«
»Wieso denn Hirngespinst?« fragte ich.
»Desolate Swamp, verlassener Sumpf. Einen Ort mit so einem Namen kann es gar nicht geben, das muß sich jemand ausgedacht haben. Das ist bestimmt eine romantische Metapher für etwas anderes.«
»Meinst du vielleicht für den Tierarzt?«
»Das ist vielleicht ein bißchen zu weit hergeholt?«
»Ja, was denn dann?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe mal von einem Ort gehört, der hieß Great Dismal Swamp. Ich glaube, das liegt in Georgia.«
Ich nahm den Zettel mehrmals auf und legte ihn wieder hin. War es möglich, daß der Junge aus der Nachbarschaft, der Missy abgeholt hatte, derselbe war, der sie auf diese Reise nach Desolate Swamp mitgenommen hatte. Ja. Dies war keine romantische Metapher. Jill Bonaventura hatte mir - durch Zeit und Raum - eine konkrete Information zukommen lassen.
»Tony, ich glaube, es gibt wirklich einen Ort, der Desolate Swamp heißt.«
»Alice, im Wunderland vielleicht.«
»Nein, einen richtigen Ort. Wir müssen ihn finden.«
»Wie?«
»Landkarten, Atlanten. Ich habe keine Ahnung, Tony. Das ist deine Aufgabe.«
»Alice, das ist eine langwierige Geschichte. Eine traurige, langwierige Geschichte. Wir klammern uns an Strohhalme. Wir fangen langsam an, alt auszusehen.« Ich brachte ihn zum Schweigen, indem ich meine Finger auf seine Lippen legte.
12
»Also, Abaelard, wenn du mich hören kannst - und ich weiß, daß du mich hören kannst, auch da unter den Möbeln - dann beantworte mir mal folgende Fragen: Warum hat ihr Bruder Jill Bonaventura jedes Jahr zweitausendfünfhundert Dollar gegeben? Warum hat Georgina Kulaks Jack Tyre ein Blattsträußchen geschickt? Warum hat der Junge aus der Nachbarschaft Missy mitgenommen, nachdem Jill Bonaventura umgebracht worden war? Warum hat Jack Tyre seine Katze jedes Wochenende mit in den Park genommen? Warum hat der Mörder für jede Katze eine Spielzeugmaus zurückgelassen?«
Ich sagte nichts mehr, spitzte die Ohren und wartete. Ich wußte, daß Abaelard unter dem großen Mahagonischreibtisch hockte, an dem ich saß. Ich konnte ihn hören. Natürlich hatte ich längst jede Hoffnung aufgegeben, ihn jemals zu Gesicht zu kriegen. Aber ich konnte mit ihm kommunizieren, auf eine Art, die über meine Pflichten als Catsitterin hinausging.
Keine Antwort. Ich klopfte auf die Tischplatte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Und warum hat der Mörder die Bilder schiefgerückt?« Es war zwecklos. Abaelard wollte mich nicht unterstützen.
Ich schaute auf eine von Mrs. Salzmans zahlreichen Wanduhren. Es war zwanzig nach elf am Vormittag. Tony war jetzt in der großen Bibliothek in der Forty-second Street und versuchte, etwas über einen Ort namens Desolate Swamp herauszufinden. Aber vielleicht war Desolate Swamp ja gar kein Ort, sondern nur ein romantischer Topos im Kopf von Jill Bonaventura.
Tony hatte alle drei Telefonnummer: meine Privatnummer, meine Nummer bei Retro und die Nummer von Mrs. Salzman. Sobald er etwas herausgefunden hatte, würde er anrufen.
Ich verließ das Wohnzimmer, wo ich mich mit dem untergetauchten Abaelard unterhalten hatte, und ging in die Küche, um ihm sein
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