Eine Katze im Wolfspelz
wird von einer Schlange in den Fuß gebissen, die Wunde entzündet sich und schmerzt sehr stark. Seine Kameraden können den Gestank der eiternden Wunde und die Schmerzensschreie des Mannes schließlich nicht mehr ertragen, und daher lassen sie ihn auf einer einsamen Insel zurück. Er überlebt zwar, aber die Wunde heilt nicht. In der Zwischenzeit versuchen seine Kameraden ohne jeden Erfolg, Troja einzunehmen. Dann erhalten sie einen Orakelspruch: Die Stadt wird erst dann erobert werden können, wenn Philoktet von der Insel gerettet und nach Troja gebracht wird. Aber Philoktet lehnt es ab, unter der Bedingung gerettet zu werden, nach Troja mitzugehen, denn sein Haß auf die Kameraden ist zu groß. Er will, daß sie geschlagen werden.«
Sie lächelte, nahm ein Salatblatt auf die Gabel und ließ es wieder auf den Teller fallen. Dann fuhr sie fort.
»Erst der Halbgott Herakles, der auf die Insel heruntergeschickt wird, kann Philoktet überreden mitzukommen. Die Gelehrten sagen, daß es in dem Stück um den Konflikt zwischen dem Individuum und dem Staat geht, darum, daß jemand seine eigenen Gefühle - ob ihm das nun paßt oder nicht - hintanstellen muß, wenn es um das Wohl der Allgemeinheit geht, in diesem Falle um das Wohl der Griechen, die Troja erobern wollen.«
»Und was meinen Sie dazu?«
»Ich glaube, daß das Schwachsinn ist. Ich bin der Überzeugung, daß es in dem Stück um die Wunde geht.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Es handelt von einer Wunde, die nicht heilt, eine Wunde, die immer ekelhafter wird. Es geht um die Existenz.«
Allmählich fing ich an zu begreifen, wovon sie redete, und ihr Ansatz gefiel mir. Aber während sie sprach, konnte ich an nichts anderes denken als an Karl Bonaventura. An seine Wunde. An dieses gärende Andenken an seine tote Schwester, die ihn vielleicht sogar zu einem Mordversuch getrieben hatte.
»In meiner Übersetzung des Stückes ist die Wunde in der Leistengegend, nicht am Fuß. Die Wunde steht für Kastration. Die Wunde bedeutet Impotenz. Und alle Hauptrollen - mit Ausnahme der des verwundeten Helden - werden Frauenrollen sein.«
Das hatte ich nicht erwartet. Ich riß mich aus meinen Grübeleien über Bonaventura und hörte Tricia Lamb aufmerksamer zu. Nach ihrem ersten Anruf hatte ich gedacht, daß ich lediglich eine Männerrolle übernehmen würde. Schließlich haben schon viele Schauspielerinnen Hamlet in Frauenkleidern dargestellt. Und genauso viele Männer haben Frauenrollen gespielt. Aber Tricia Lamb wollte wirklich das Geschlecht der Protagonisten ändern, außer dem von Philoktet.
»Ja«, bestätigte sie, als sie meine Überraschung sah, »alle Rollen werden mit Frauen besetzt, auch der Chor - mit Ausnahme von Philoktet.«
»Haben Sie denn das Stück verändert, um das logischer zu machen?« fragte ich.
»Ich habe eine Menge an dem Stück verändert, habe aber die Grundstruktur so weit wie möglich erhalten - zumindest, was die Dialoge betrifft.«
Der Kellner räumte unsere Teller ab. Sie hatte ihren Salat nicht aufgegessen. Ich hatte den Aal und fast den ganzen Reis verspeist. Ich bestellte Eis zum Nachtisch.
»Ich glaube, die Rolle des Odysseus wäre ideal für Sie. Ja, das glaube ich wirklich.«
»Odysseus?«
»Ja.«
Ich löffelte langsam mein Eis. Tricia Lamb blickte jetzt durch mich hindurch, als ob vor ihrem inneren Auge bereits die Premiere abliefe.
»Essen Sie keinen Nachtisch?« fragte ich.
»Nein«, antwortete sie. »Eigentlich mag ich überhaupt kein japanisches Essen. Der einzige Grund, warum ich zum Mittagessen in japanische Restaurants gehe, ist, weil ich diese einfachen Holztische mag, die es in diesen Läden immer gibt.« Sie fuhr mit der Hand über die blankpolierte Maserung des Holzes.
»Bis wann muß ich mich entscheiden?«
»Wir haben noch reichlich Zeit. Ich hoffe, daß wir irgendwann nächstes Jahr im Februar oder März die ersten Vorstellungen geben können. Das heißt, wir müßten Anfang Dezember mit den Proben anfangen. Ich plane auch eine Art Workshop, bevor wir mit den eigentlichen Proben beginnen.«
»Was für ein Workshop?«
»Nur so eine Art kleines Seminar, damit jeder, der mitmacht, weiß, wo ich herkomme, was ich will, was für einen Ansatz ich habe. Damit alle Beteiligten lernen, mit ihrer Wunde umzugehen.« Sie sah mich verschwörerisch an und lächelte.
»Ich werde sehr gründlich darüber nachdenken«, sagte ich.
»Gut. Ich möchte Sie wirklich sehr gern für diese Rolle haben. Was Sie machen, gefällt
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