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Eine Katze im Wolfspelz

Eine Katze im Wolfspelz

Titel: Eine Katze im Wolfspelz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Adamson
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saß an dem langen Holztisch auf der anderen Seite des Zimmers. Bushy war nicht in Sicht, wahrscheinlich war er im Schlafzimmer, lag auf dem Kopfkissen und verteidigte so sein Terrain, weil er befürchtete, Tony würde auch noch seinen Platz in meinem Bett erobern.
    Auf dem Boden neben dem Sofa lag ein halbgegessenes Sandwich mit Geflügelsalat, daneben stand ein leeres Weinglas, das zu einem Drittel mit Brandy gefüllt gewesen war.
    »Tony, ich möchte dir etwas vorlesen. Es ist eine Passage aus Philoktet.«
    »Okay, Alice, lies nur.«
    »Der Chor spricht über unseren Helden:
     
    ›Staunen erfaßt mich,
Wie er allein, umtost von Wogenbrandung,
Alle des Daseins Qualen
Zu tragen stark war.
Nur er selbst sein Freund,
Keines Schrittes mächtig,
Nirgends ein Nächster im Elend,
Dem er mit hallendem Rufen
Das böse Weh, das wühlende, klagte,
Der ihm stillte das heiße Blut,
Wenn’s dem vertierten Fuß grausig entquoll;
Mit gütigen Kräutern
Der nährenden Erde.
Kriechend schleppt er sich...‹«
    »Das reicht, Alice, das reicht!« unterbrach mich Tony. »Der arme Kerl hat ein Problem. Das ist sonnenklar.«
    Ich schloß das Buch. »An wen erinnert dich das, Tony?« »An Quasimodo.«
    Ich ignorierte diese Bemerkung. »Karl Bonaventura.« »Mir ist nicht aufgefallen, daß er irgendein Fußleiden hatte.«
    »Die Wunde ist in seinem Herzen. Der Tod seiner Schwester. Aber vielleicht war der Tod seiner Schwester auch ein Versuch, seine Wunde zu heilen. Vielleicht war es eine inzestuöse Wunde.«
    »Was zum Teufel redest du da für einen Blödsinn, Alice? Zuerst mal glaube ich nicht, daß es Karl war, der von der Überführung auf mich geschossen hat. Ich glaube vielmehr, du schießt ganz gewaltig über das Ziel hinaus.« »Na und?«
    »Schau mal, Alice, ich meine, du verzettelst dich jetzt wirklich. Weil du nämlich eine Tatsache nicht akzeptieren kannst.«
    »Und die wäre?«
    »Daß du bei der Aufklärung dieser Morde nicht einen Schritt weiter bist als zu Anfang. Du hast lediglich eine komische Ansammlung kleiner, merkwürdiger Fakten zustandegebracht. Zum Beispiel, daß manche der Bilder an den Wänden der Opfer schief hingen, wie in einem alten Kinderreim. Oder daß die meisten Katzen zum Zeitpunkt der Tat spurlos verschwunden zu sein scheinen.« Er unterbrach seinen Monolog, langte nach dem Glas auf dem Boden, sah, daß es leer war, verzog das Gesicht und fuhr fort: »Oder ein Sumpf irgendwo in den Adirondacks. Sieh mal, Alice, im Grunde warst du auch nicht besser als diese Computerleute bei Retro.«
    Ich war wütend. Trotzdem sagte ich mit ruhiger Stimme: »Du vergißt die Abstände zwischen den Verbrechen und die Jahreszeiten. Sie müssen was mit Katzen zu tun haben.«
    »Aber das hast nicht du herausgefunden, Alice. Du hast mir selbst erzählt, daß es dieser FBI-Agent aus Baltimore war. All das, was du dir überlegt hast, ist genauso schwachsinnig wie das, was Retro herausgefunden hat: Spielzeugmäuse in den Wohnungen toter Leute. Liebe Güte, Alice, das ist doch alles nicht ernst zu nehmen.«
    »Du redest wie Judy Mizener.«
    »Ich rede wie ein Mann mit zerschlagenem Gesicht, der noch einen Brandy braucht.«
    Ich ging in die Küche, holte die Flasche und schenkte ihm noch ein wenig Brandy ein. Für mich goß ich etwas in eine Kaffeetasse: So hatte ihn meine Großmutter immer getrunken, an kalten Abenden, wenn sie die Kühe auf ihrer Milchfarm für die Nacht fertiggemacht hatte.
    »Tony«, sagte ich milde nach dem ersten Schluck, »ich glaube, wir waren in der falschen Wohnung.«
    »Wovon redest du?«
    »Wir hätten nicht in Jill Bonaventuras Wohnung gehen sollen - das ist nur eine Kultstätte. Wir hätten lieber Karls Apartment in Augenschein nehmen sollen.«
    »Warum?«
    »Da hätten wir ganz bestimmt etwas Wichtiges gefunden.«
    »Aber damals hast du auch gedacht, der Zettel mit der Nachricht wäre wichtig. Sonst hättest du mich ja wohl kaum auf diese verrückte Reise nach Desolate Swamp geschickt.«
    »Ich hab dir schon mal gesagt, Karl hat das vielleicht eingefädelt. Um dich umzubringen - oder uns beide. Er war sich sicher, daß wir diese Spur verfolgen würden. Er will uns aus dem Weg räumen.«
    »Warum sollte er? Glaubst du, er hat seine Schwester umgebracht? Mein Gott, der Typ ist doch ganz wahnsinnig vor Trauer.« Er setzte sich auf und blickte mich mit schreckgeweiteten Augen an. »Oder glaubst du, er hat auch die anderen umgebracht?«
    Ich nahm noch einen Schluck Brandy. Es war Frühling in New

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