Eine Klasse für sich
reden, der sie gekannt hatte; solche Gelegenheiten mussten sogar für ihn immer seltener werden. Er bemerkte meinen Blick. »Bevor du gehst, möchte ich dir noch etwas zeigen«, sagte er. Er führte mich aus dem prachtvollen Salon den Gang entlang, vorbei an halb geöffneten Türen, die einen Blick in elegante Ess-, Lese – und sonstige Zimmer erlaubten, bis wir zur letzten Tür gelangten. Er öffnete sie und winkte mich in einen Raum, der mit seinem Schreibtisch und dem bequemen Stuhl nach Arbeitszimmer aussah. Wahrscheinlich arbeitete Kieran tatsächlich hier und nicht in der prächtigen Bibliothek, wo er nur mit einer Sekretärin alles Nötige durchging. Ganz sicher verbrachte er hier viel Zeit, ich würde sogar sagen, so viel er konnte, aber nicht, weil es hier besonders ruhig oder aufgeräumt war. Hier herrschte keine Arbeitsatmosphäre ; der Raum war vielmehr ein Heiligtum. Alle vier Wände waren mit gerahmten Fotografien gepflastert. Eine Wand zeigte ausschließlich Fotos von Joanna, wie ich mich an sie erinnerte, jung und umwerfend schön; dann gab es eine etwas ältere Joanna und schließlich eine Joanna, die noch ein paar Jahre älter war, aber niemals alt.
Mit dreißig sah sie allerdings abgespannter, verhärmter und zerknitterter aus, als sie hätte aussehen sollen. Die dreiunddreißig jährige Joanna verließ während der Scheidung das Gericht, ein Bild unverhohlenen Unglücks, aufgenommen von einem lauernden Paparazzo, aber wahrscheinlich nie gedruckt. Joanna mit fünfunddreißig, lachend neben ihrem Sohn. Kieran sah mich an. »Das Foto wurde von einer Freundin geknipst. Malcolm war zum Mittagessen da. Das letzte gemeinsame Bild der beiden. Und das letzte Bild von ihr. Sie hatte nicht einmal mehr eine Woche zu leben. Das würde man nicht vermuten.«
»Nein, wirklich nicht.« Ich starrte auf den lächelnden Mund und die müden Augen und hoffte, dass sie einen wirklich glücklichen Tag erlebt hatte, die letzte Unternehmung mit ihrem geliebten Sohn. »Und die Presse hat überhaupt nicht darüber berichtet? Ich begreife immer noch nicht, wie du es geschafft hast, Joanna da herauszuhalten. Sogar aus den Lokalblättchen?«
Er musterte mich unbehaglich. »Es gab ein paar kurze Meldungen, aber nicht viele.«
»Über Google konnte ich nichts finden. Nach eurer Trennung wurde nichts mehr über sie bekannt.«
»Sie hat nach der Scheidung meinen wirklichen Namen benutzt. Dieser Name stand auf allen Papieren in ihrer Handtasche. Ich konnte verhindern, dass man sie mit mir in Verbindung brachte.« Er zögerte. »Du findest ein paar Artikel, wenn du ›Joanna Futtock‹ eingibst. «
Er sah mich ziemlich verlegen an. »Warum, glaubst du, habe ich den Namen de Yong nie abgelegt?«
»Das habe ich mich öfter gefragt. Wie hieß deine Mutter denn mit Mädchennamen?«
»Cock.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Da fragt man sich schon …«
»Manche Leute haben aber auch ein Glück«, sagte ich. Wir mussten tatsächlich beide lächeln.
An den anderen Wänden dieses kleinen Gedenkzimmers hingen Bilder von Joanna mit Kieran. Da war ein junger Kieran mit grässlichem blondem Haarmopp und einer schier unerschöpflichen Garderobe
der weltweit hässlichsten Kleidungsstücke. Dann ein erwachsener Kieran; Kieran der Erfolgreiche, der Präsidenten und Königen die Hand schüttelte; Kieran in immer besseren Anzügen. Und neben Kieran tauchten, wo man hinblickte, immer mehr Bilder seines Jungen auf. Malcolm auf einem Grundschul-Klassenfoto, Malcolm beim Schwimmen, Malcolm auf dem Fahrrad, Malcolm auf dem Pferd, Malcolm im Internat mit beiden Eltern, einer auf jeder Seite des mürrischen Jungen, der sichtlich keine Lust hat auf die Schulfeier. Malcolm beim Skilaufen, Malcolm an der Universität, Malcolm, wie er mit ernstem Gesicht sein Universitätsdiplom in Empfang nimmt, Malcolm, wie er mit dem Rucksack durch die Welt zieht. »Was macht er jetzt?«, fragte ich.
Kieran schwieg einen Moment, dann sagte er, so ruhig er konnte: »Er ist auch tot.«
»Was?« Ich kannte den Jungen gar nicht und seinen Vater nur flüchtig, aber das war ein Schlag.
»Nicht wie seine Mutter.« Diesmal füllten sich seine Augen, auch wenn er seine Stimme bewundernswert unter Kontrolle hielt. »Er war bei bester Gesundheit, dreiundzwanzig, hatte gerade in der Warburg Bank angefangen und bekam eine hartnäckige Erkältung, die er nicht loswurde. Da ging er zum Arzt.« Er atmete schwer, ganz in jenen Moment zurückversetzt. »Ich habe ihn zur
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