Eine Klasse für sich
wartete auf den nächsten Akt der Abendunterhaltung. Törichterweise blieb ich stehen und sah mir die Szene an. »Hast du ein Problem, oder was?«, fragte ein Glatzenträger mit unzähligen Ringen am rechten Ohr. Mich wunderte, dass er von dem Gewicht nicht ins Schlingern geriet.
»Nicht im Vergleich zu euch«, sagte ich und bedauerte gleich meine Klugschwätzerei, als er drohend einen Schritt auf mich zu machte.
»Lass ihn gehen, Ron. Das ist der gar nicht wert«, rief ihm die Schwarzhaarige zu, deren Hintern von mindestens vier unterrockartigen Kleidungsstücken nur knapp bedeckt wurde. Ron ließ sich besänftigen und drehte wieder ab.
Bei seinem Rückzug spuckte er mir noch ein knackiges »Verpiss dich« nach, mehr als Grußfloskel, wie man sich auf der Dorfstraße einen »Guten Morgen« wünscht. Ich folgte seiner Empfehlung, bevor er es sich anders überlegte.
Ich laufe nachts nicht oft durch die Straßen, mehr aus Bequemlichkeit als aus Angst, aber wenn ich doch einmal hinausgehe, staune ich, wie sehr sich London im Lauf meines Erwachsenenlebens verändert hat. Das Augenfälligste ist nicht Straßenraub oder Kriminalität allgemein, sind nicht einmal umherwirbelnder Dreck und Müll, vom Wind an Geländern und Platanenstämmen zu Haufen geweht, die vergeblich auf Müllmänner warten. Es sind die Betrunkenen, die nicht nur in London, sondern fast überall die Straßen in eine kleine Hölle für den rechtschaffenen Bürger verwandeln. So etwas kannte man früher nur aus dem Sibirien unter Stalins eisernem Regime, wo die Unterdrückten ihr Elend im Alkohol ertränkten, oder aus arktischen Zonen, wo lange Winternächte den Stärksten um den Verstand bringen. Aber warum bei uns? Wann hat das angefangen? Früher dachte ich, Besäufnisse beschränkten sich auf gewisse soziale Schichten und seien an die Übel sozialer Benachteiligung gekoppelt. Weit gefehlt. Vor Kurzem war ich in einem der schicksten Clubs von St. James’s zu einer Party geladen, mit der ein reizender junger Mann seinen Einundzwanzigsten feierte. Das Geburtstagskind war mit Intelligenz
gesegnet, mit der Hälfte des englischen Adels verwandt und stand am Beginn einer glänzenden Karriere. Ich sah zu, wie die ganzen netten jungen Mädchen und jungen Männer einen Drink nach dem anderen kippten, bis sie torkelten, kotzten oder beides. Als ich aufbrach, hörte ich, von lautem Gelächter begleitet, ein Tablett mit Gläsern zu Boden gehen, und ein Mädchen in einem hübschen Couturekleid aus lila Chiffon stürzte an mir vorbei, die Hand auf den Mund gepresst in der Hoffnung, es noch rechtzeitig zur Toilette zu schaffen. Draußen urinierte ein Typ mit Spuren von Erbrochenem an seinem Smokinghemd an das Auto neben dem meinen. Ich war keinen Moment zu früh geflüchtet.
Natürlich haben, wie eh und je, auch zu meiner Zeit manche Leute zu tief ins Glas geschaut, aber ein richtiger Vollrausch war selten, man gab damit eine traurige Figur ab. Noch vor zehn Jahren galt es als Fauxpas, sich in der Öffentlichkeit zu betrinken, als Entgleisung, für die man sich am nächsten Tag zu entschuldigen hatte. Heute ist der Rausch das Ziel. Begreift irgendwer, warum wir das zulassen? Ich für meinen Teil begreife es nicht. Natürlich verstehe auch ich den Reiz einer freizügigen Kneipenkultur, die wir wohl auch gefördert haben. Aber wie lange kann ein vernünftiger Mensch einem Desaster zusehen, ohne es sich einzugestehen? An welchem Punkt schlägt Optimismus in Selbsttäuschung um? Neulich hat irgendeine unterbelichtete Trulla im Radio ihren eingeschüchterten Gesprächspartner belehrt, am öffentlichen Komasaufen gebe es nichts auszusetzen, denn das wirkliche Problem liege woanders, bei den Alkoholikern mittleren Alters in der Mittelschicht, die sich im eigenen Haus volllaufen lassen. Der arme, niedergebrüllte Kerl wagte nicht einzuwenden, dass diese Leute trotzdem nicht das Problem sind, selbst wenn sie jeden Abend ihres Lebens sturzbesoffen auf dem Teppich liegen und Seemannslieder grölen, denn sie sind kein Problem für andere . Warum begreifen die heutigen Politiker nicht, dass es ihre Aufgabe ist, asoziales Verhalten, nicht aber privates Tun und Treiben zu kontrollieren, und uns Vorschriften nur dort zu machen, wo unser Verhalten andere schädigt, aber nicht dort, wo wir uns selbst schaden? Manchmal kann man sich schwer des Gefühls erwehren, unsere Kultur
habe ausgespielt, trudle nur noch im Leeren und wolle das nicht wahrhaben.
Ich schloss meine
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