Eine Klasse für sich
Untersuchung in die Klinik gebracht. Sieben Wochen später war er tot.« Er rieb sich rasch über die Nase, ein erfolgloser Versuch, seine Tränen wegzudrängen. Dann redete er weiter, mehr um sich selbst zu beruhigen als meinetwegen. »Das war’s dann. Ich habe nicht ganz begriffen, was da passiert ist. Anfangs nicht. Eine ganze Weile nicht. Ein paar Jahre später habe ich sogar noch einmal geheiratet.« Er schüttelte den Kopf über die Absurdität des Lebens. »Das war natürlich lächerlich und hat nicht lange gehalten. Ein Fehler.« Er sah mich wieder an. »Ich dachte, ich könnte einfach weiterleben. Ach, egal«, seufzte er. »Nachdem ich Jeanne losgeworden war, habe ich die Häuser und alles andere verkauft und bin hierhergezogen. Ich habe aber vieles mitgenommen, wie du siehst. Ganz habe ich mit dem Leben noch nicht abgeschlossen.«
»Womit verbringst du deine Zeit?«
»Hm.« Er dachte kurz nach, als wäre das eine sonderbare Frage und die Antwort schwierig. »Ich habe noch vieles am Laufen und finanziere Forschungsvorhaben, vor allem in der Krebsforschung. Ich stelle mir gern vor, dass ich damit jemand anderem dieses Schicksal vielleicht ersparen kann. Und ich mache mir Sorgen um die Bildung heutzutage, besser gesagt über den Bildungsmangel. Wenn ich jetzt zur Welt käme, würde ich hinter den Zapfhähnen im Pub von Chelmsford landen. Mich beschäftigen diese Jugendlichen, die nie eine Chance haben werden, wenn sich nichts ändert.« Er schien sich gern mit diesen Projekten zu befassen und gefiel sich in seiner Rolle als Förderer. Was ich ihm von Herzen gönnte. »Davon abgesehen lese ich. Ich sehe viel fern und genieße es auch, was heute ja keiner zugibt. Weißt du …« Er versuchte zu lächeln, gab aber schnell auf. »Wenn dein einziges Kind tot ist, dann bist du auch tot.« Er machte eine Pause, als grübelte er dieser Wahrheit noch einmal nach. »Dann ist dein Leben vorbei. Du bist nicht mehr Vater. Du bist nichts. Es ist aus. Du wartest nur noch darauf, dass dein Körper deine Seele einholt. «
Dann versiegten seine Worte, und wir standen einfach nur noch da an diesem heiligen Ort der Liebe. Kieran weinte hemmungslos, die Tränen liefen ihm die Wangen herunter und hinterließen auf seinen teuren Revers dunkle Spuren, und ich gestehe, dass es mir genauso ging. Wir sagten nichts mehr, und ein paar Minuten lang rührten wir uns nicht von der Stelle. Wir wären gewiss ein seltsamer Anblick gewesen: zwei etwas übergewichtige ältere Herren reglos in ihren feinen Maßanzügen aus der Savile Row, die Rotz und Wasser heulen.
Terry
11
Es überrascht wohl kaum, dass ich nach einem solchen Abend das dringende Bedürfnis nach frischer Luft hatte. Kieran bot mir an, mich von seinem Fahrer nach Hause bringen zu lassen, aber ich wollte zu Fuß gehen, wenigstens ein Stück, und er drängte nicht weiter. Kurios, wie wir Engländer nun mal sind, schüttelten wir uns die Hand, als hätten wir nicht gerade ein aufwühlendes Erlebnis geteilt. Als hätte unser Gespräch gar nicht stattgefunden und die Spuren unserer Tränen eine andere, banalere, annehmbarere Erklärung. Wir murmelten die üblichen Floskeln vom Wiedersehen; das sagt man ja immer. Anders als sonst hoffe ich, dass es wirklich dazu kommt, glaube aber nicht daran.
Dann brach ich auf und ging den Fluss entlang. Der Weg nach Hause war lang, aber ich spürte die Kälte nicht. Beim Dahinschlendern durchlebte ich meine Erinnerungen an Joanna noch einmal und bettete sie dann zur Ruhe. Ich war froh über diese Chance, mir ein neues Bild von Kieran zu machen. Zu helfen war ihm nicht, aber ich hatte tief in eine Seele blicken dürfen, die den Blick wert war. Als ich mit solchen melancholischen Gedanken von der Gloucester Road in den Hereford Square bog, hörte ich Kreischen, Gelächter, laute Stimmen und schließlich Würggeräusche. Was da an Halbverdautem aufs Trottoir platschte, hörte sich an wie ein vollständiges indisches Takeaway-Menü. Ich schriebe ja gern, ich hätte mich darüber gewundert, aber solche allerliebsten Vorfälle überraschen heute nur noch Marsmenschen – kürzlich eingeflogene, wohlgemerkt.
Eine Gruppe junger Männer und Frauen, wohl Anfang zwanzig, lungerte an einer Ecke des Platzes herum, vielleicht gerade erst ausgespien vom Hereford Arms, dem Pub auf der anderen Straßenseite. Eine der Frauen in Ledermini und Sportschuhen übergab sich, eine
andere mit unnatürlich schwarzen Haaren stützte sie. Der Rest stand herum und
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