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Eine Klasse für sich

Eine Klasse für sich

Titel: Eine Klasse für sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Fellowes
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Schaurige wirklich passiert ist. Damals aber stellte man alles möglichst lebensecht dar, sodass es einem richtig unter die Haut ging, auch noch heute, bei der Erinnerung.
    Schließlich gelangten wir zum Herzstück des Raums, verdeckt von einem schäbigen Vorhang. Eine Warntafel forderte den Besucher auf, sich seelisch zu wappnen, bevor er ihn beiseitezog; Jugendlichen unter sechzehn war das Öffnen ganz verboten, was die Neugier noch weiter anheizte. Mich faszinierte vor allem der Vorhang selbst, der alt war, fadenscheinig und schmuddelig wie ein Stoffstück, hinter dem man im Gartenschuppen die Unkrautvernichtungsmittel verschwinden lässt. Auf mich wirkte er viel unheimlicher als jeder blutrote Satin. »Sollen wir?«, fragte ich.
    Lucy wandte sich ab, wich aber nicht vom Fleck. »Mach du. Ich will gar nicht hinschauen.« Das heißt meistens nicht, dass man die enthüllten Schrecken nicht sehen will, sondern dass man jede Verantwortung dafür ablehnt. So kann man niedrige Instinkte ausleben, ohne die eigene moralische Überlegenheit aufzugeben.
    Ich zog den Vorhang zurück. Der Schock war heftig und unvermittelt. Obwohl er nicht durch die junge Frau verursacht wurde, die, an einem Eisenhaken aufgespießt, sich schreiend in Todesqualen wand. Das konnte ich verkraften. Was mich vor Schmerz fast aufheulen ließ, war der Anblick von Damian, der Serena leidenschaftlich umarmte und ihr allem Anschein nach seine Zunge so weit in den Rachen stieß, dass sie kaum noch atmen konnte. Leider kann ich nicht behaupten, sie hätte sich gegen seine Zudringlichkeiten gewehrt. Weit gefehlt. Sie krallte die Hände in seinen Rücken, wühlte in seinen Haaren und presste sich an ihn, als wollte sie mit ihm verschmelzen. »Kein Wunder, dass hier ein Warnschild hängt«, sagte Lucy. Die beiden erstarrten, dann fuhren sie herum. Ich suchte verzweifelt nach einem Kraftausdruck, mit dem ich gleichzeitig meiner
Wut auf Damian, meiner Enttäuschung über Serena und meiner Verachtung der neuen Moral Luft machen könnte. Der Anspruch war zu hoch. Ich hätte ein deutsches Bandwurmwort erfinden müssen, denn das Englische stieß hier an seine Grenzen.
    »Stören wir?«, sagte ich. Was meine Gefühlslage nun wirklich nicht besonders traf.
    Die beiden lösten sich mit einem Ruck, Serena strich ihr Kleid glatt. Ihre Körpersprache verriet, dass sie Lucy und mich am liebsten gebeten hätte, niemandem etwas zu sagen, aber so weit wollte sie sich natürlich nicht erniedrigen. »Wir halten den Mund«, sagte ich unaufgefordert.
    »Das ist mir ziemlich gleichgültig«, erwiderte sie ungeheuer erleichtert.
    Damian trug bereits wieder seine übliche Nonchalance zur Schau. »Wir sehen uns später«, sagte er zu Serena und umarmte sie flüchtig. Dann wischte er sich den Lippenstift mit einem Taschentuch vom Mund und steckte es wieder ein. Ohne ein Wort an uns schlüpfte er durch den Vorhang und machte sich davon.
    Plötzlich fluteten die Klänge von O. C. Smiths Hickory Holler’s Tramp den Raum, ein Song, der in jenem Sommer oft gespielt wurde, allerdings ein seltsamer Kontrast zu den abgetrennten Köpfen, den Mördern und den bedauernswerten Opfer an ihren Haken. Wir drei aber standen immer noch da wie angewurzelt, bis uns ein Geräusch zusammenfahren ließ. Um die Ecke lugte, höchst unwillkommen, Andrew Summersby. »Ach, da bist du«, sagte er zu Serena. Lucy und mich ignorierte er völlig. »Ich habe dich schon überall gesucht.« Sein Blick fiel auf unsere groteske Wachsgesellin. »Oh!« Er lachte. »Da wird wohl jemand mit Verdauungsbeschwerden aufwachen. « Und er gab der Figur einen Schubs, als säße sie auf einer Schaukel. Langsam schwang das grausige Ding an seinem Seil hin und her.
    »Komm, tanzen wir«, sagte Lucy. Wortlos überließen wir Serena ihrem hochwohlgeborenen Deppen und gingen zur kleinen, dunklen Tanzfläche hinüber. Sie lag im Schatten einer Guillotine, auf der zwei stramme Revolutionäre einen französischen Aristokraten in
einem grünen Gehrock aus billigem, zerknittertem Samtvelours festschnallten. Hinter den kunstvoll drapierten Vorhängen einer Seitenloge blickte die gesamte französische Königsfamilie gelassen auf die Szene.
    »Alles in Ordnung?« Zu meiner Verblüffung schien Lucy am Rand der Tränen. Warum, war mir schleierhaft.
    Meine Frage schien sie zu reizen. »Klar doch«, erwiderte sie schnippisch und hüpfte eine Weile grimmig zur Musik herum. Dann sah sie zu mir hoch, als wollte sie sich entschuldigen. »Am besten

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