Eine Klasse für sich
kreuzte an der Tür eines recht mondänen Hauses am Montpelier Square auf, und während ich wartete, dass auf mein Klingeln hin geöffnet würde, trudelten noch Lucy Dalton und ein mir kaum bekannter junger Mann ein. Wir drei standen da und traten von einem Bein aufs andere, bis endlich die Tür aufging. Mrs. Northbrook, unsere Gastgeberin, erschien in Jeans und Strickjacke, einen Gin Tonic in der Hand. Bei unserem Anblick wich ihr das Blut aus den Wangen, und sie begrüßte uns mit dem alles erklärenden Aufschrei: »Du lieber Himmel, das ist doch nicht heute !« Ihr Kreischen alarmierte Mr. Northbrook, der sogleich beauftragt wurde, einen Tisch für zehn Personen in dem ausgezeichneten Restaurant gegenüber von Harrods zu buchen. Mittlerweile rückten wir von der Türschwelle ins Innere des Hauses vor, warteten alle in dem hübschen, unaufgeräumten, alles andere als empfangsbereiten kleinen Wohnzimmer und tranken den hervorragenden Pouilly Fumé, den Laura Northbrook glücklicherweise im Kühlschrank gefunden und uns kredenzt hatte, bevor sie nach oben zu ihrem Mann entschwand und beide sich in ihre Abendgarderobe kämpften. Nach einer solchen Begrüßung konnten sie sich diesen Fremden gegenüber, die sie zu ihrem Schrecken plötzlich am Hals hatten, kaum knausrig zeigen, und das Ergebnis war eines der besten Dinner des ganzen Jahres.
Unser Grüppchen war deshalb sehr fröhlich und aufgeräumt, als wir gegen elf Uhr abends den berühmten Eingang erreichten. Es muss wohl Türsteher oder Ähnliches gegeben haben, aber ich habe keine deutlichen Erinnerungen, dass Einladungen überprüft oder Listen abgehakt wurden. Als Ballsaal diente der damalige und vielleicht auch noch heutige Saal der Könige. Die Mitte war als Tanzfläche frei geräumt und von den Wachsfiguren der königlichen Hoheiten in einem so lockeren Kreis umringt, dass wir zwischen ihnen
herumschlendern konnten. Später erschienen in der Presse, wenn auch nicht wie ursprünglich geplant im Tatler , Fotos von den Debütantinnen und ihren Begleitern, scheinbar im Gespräch mit Heinrich dem Achten oder Königin Caroline von Ansbach. Ich selbst wurde mit einem Mädchen abgelichtet, das ich noch aus meiner alten Heimat Hampshire kannte. Gnädigerweise wurde das Foto nirgendwo abgedruckt, aber ich habe immer noch einen Abzug. Wir sehen aus, als redeten wir auf eine verblüffte, entrüstete Prinzessin Margaret ein.
Überhaupt sieht jede jemals gefertigte Wachsfigur aus, als stünde sie entweder unter dem Einfluss starker Beruhigungsmittel, oder als wäre sie gerade wegen Körperverletzung verhaftet worden, fast das Einzige, was in den letzten vier Jahrzehnten unverändert geblieben ist − bis auf die Wahl der Persönlichkeiten natürlich. Allerdings herrschte bei der Wahl der Motive noch nicht die moderne, kleinmütige Furcht, Anstoß zu erregen, und ich kann bezeugen, dass das Gruselkabinett jener Tage wahrhaft gruselig war. An diesem Abend beherbergte es die Diskothek; Lucy und ich stiegen hinunter und sahen uns um.
Der Raum war durch Steinsäulen gegliedert, die auf ihrem oberen Sims dem Betrachter je einen abgeschlagenen, grässlich entstellten Kopf präsentierten. Augen hingen aus den Höhlen, herunterhängende Hautfetzen entblößten weiße Knochen, ein von einer Eisenstange durchbohrtes Gesicht blickte mit gutem Grund extrem überrascht drein. Eine lange Glasvitrine enthielt Miniaturdarstellungen jeder nur erdenklichen Foltermethode, von denen mir einige völlig neu waren; langsam schlenderten wir an dem Kasten entlang und staunten über die Grausamkeit des Menschen. Dann kamen die Serienmörder; vielleicht gab es diesen Begriff damals noch nicht, wohl aber das Phänomen. Dr. Crippen war da, und George Smith, der mehrere unglückliche Bräute ertränkt hatte, stand neben der Original-Badewanne, mittels derer er seine Verbrechen verübt hatte. John Haig hatte sein Hauptopfer im Onslow Court Hotel ausgespäht, das ich gut kenne, da meine Großmutter um die Ecke gewohnt hatte. Haig erwählte unter den Gästen des Restaurants Mrs. Durand-Deacon, erschlich sich ihre Zuneigung und brachte sie aufs Land an einen entlegenen
Ort, wo er sie in ein Säurefass stieß. Lucy und ich standen vor diesen unauffälligen Männern, die so unsägliches Unheil angerichtet hatten, und die Worte blieben uns im Hals stecken. Moderne Exponate dieser Art haben oft einen Zug ins Komische, der den Betrachter davor schützt, zu begreifen, dass das Gesehene wirklich wahr, das
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