Eine Klasse für sich
Diät bin«, zischte sie böse, was mich fast zum Lachen gebracht hätte, wären die Begleitumstände nicht so desolat gewesen. Da rief vom anderen Ende des Saals eine in Tränen aufgelöste Verena Vitkov nach ihrer Tochter. Jemand war ihr aufs Kleid gestiegen und hatte den Rock vom Oberteil gerissen; zwar waren nicht die Beine, wohl aber das Miederhöschen zu sehen, was natürlich viel schlimmer war.
»Komm, verschwinden wir«, sagte ich zu Georgina. Sie nickte, doch dann überstürzten sich die Dinge. Erstens kletterte Serena Gresham mit einer Smokingjacke, die vermutlich Damian gehörte, auf die Bühne und versuchte, ihm das Kleidungsstück trotz seiner Proteste über die Schultern zu legen. Über ihrem Arm hing auch seine Hose, aber mit der gab sich Serena gar nicht erst ab, ein von vornherein aussichtsloses Unterfangen. Zweitens schrillten im Saal Trillerpfeifen los, als wollten sie das Jüngste Gericht verkünden. Das Gewirr steigerte sich zur panischen Massenflucht. Heute denkt man fast ungerührt, nun ja, eine Drogenrazzia. Vierzig Jahre nach diesen Ereignissen sind Drogen leider nichts Ungewöhnliches mehr, doch damals hatte die große Mehrheit der Ballgäste nichts damit zu tun, auch wenn Popstars und Dokumentarfilme einen anderen Eindruck von den Sechzigern erwecken. Ihre Geschichten spiegeln, falls sie überhaupt wahr sind, eine Welt außerhalb der meinen. Und doch waren wir hier in eine ausgewachsene Drogenrazzia verwickelt, Debütantinnen und Dandys, dazu viele ihrer Eltern, ein gefundenes Fressen für die Zeitungen von morgen. Allein schon aus
Familienloyalität wollten alle diese netten jungen Söhne und Töchter von Earls und Viscounts, von Verfassungsrichtern und Generälen, von Bankern und Konzernchefs nichts wie weg, ungesehen und ohne aktenkundig zu werden, damit ihre unbescholtenen Väter nicht zum Gespött einer Öffentlichkeit wurden, die sich schon damals gern solche Ventile für ihren Unmut suchte. Wäre ein Feuer ausgebrochen, hätte der Ansturm auf die Türen nicht panischer sein können.
Auch ich wäre mit der Masse mitgeschwommen, doch Georgina hielt mich zurück. »Da haben wir keine Chance«, sagte sie. »Die warten doch draußen schon auf uns.«
»Wohin dann?«
»Da lang. Es muss einen Lieferanteneingang geben. Die Getränke müssen von irgendwoher kommen.«
Gemeinsam stemmten wir uns gegen den Strom der Gäste. Ich sah flüchtig, wie Candida Finch mit grünem Gesicht und offensichtlich am Ende ihrer Kräfte an der Wand gegenüber lehnte, viel zu weit weg, als dass ich ihr hätte helfen können. Zwischen uns tanzten ein paar Mädchen einen schottischen Tanz, begleitet vom eigenen Gekreisch. Dann wurde Candida von der Menge fortgeschwemmt, und ich sah sie nicht wieder.
»Was für ein Albtraum.« Das kam von Serena, die fast schon auf Tuchfühlung war, als ich sie bemerkte. Sie hatte einen Arm um Damian geschlungen, der immer noch herumschrie und alle aufforderte, in die Hände zu klatschen. »Ich klatsch dir gleich in deine Hände, wenn du nicht still bist«, sagte sie. Ohne große Wirkung. Damian stürzte, und andere hasteten über ihn hinweg, sodass ich Angst bekam, er könnte ernsthaft verletzt werden. »Hilf mir ihn hochziehen.« Serena kauerte schon zwischen den trampelnden Füßen, da war mein Einsatz gefordert. Mit vereinten Kräften schafften wir es, ihn unter den Achseln zu packen und zum Rand des Saals zu schleifen.
»Warum bist du so klar im Kopf? Hast du auch keine Brownies gegessen?«, fragte ich sie.
Serena rümpfte die Nase. »Ich hatte keinen Hunger.«
»Na also!« Die tatkräftige Georgina hatte an der Rückwand hinter einem Vorhang eine Tür zum Servicebereich ausfindig gemacht,
die nur von wenigen Leuten genutzt wurde. Hinter uns schwoll die Lautstärke der Pfiffe und des allgemeinen Tohuwabohus immer weiter an; wer den Saal auf offiziellem Weg verlassen wollte, musste zuvor unschöne Befragungen über sich ergehen lassen.
»Mein Gott, da draußen steht die Presse!«, stieß Lucy hervor, die ein paar Stufen weit die Haupttreppe hinuntergelaufen war, aber nach dieser Entdeckung sofort zurückprallte. »Wenn ich in die Zeitung komme, bringt mein Vater mich um.« Es ist schon seltsam. Wir ließen uns von solchen Überlegungen viel stärker leiten als die jungen Leute heute.
Unter Georginas Führung gelangten wir zu einer Personaltreppe. Gäste in verschiedenen Stadien der Auflösung hasteten hinunter. Einem Mädchen brach der Absatz ab; mit einem Aufschrei
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