Eine Klasse für sich
beachtest du mich gar nicht«, sagte sie. »Kurz vor dem Aufbruch hat mich eine schlimme Nachricht erreicht, und plötzlich ist mir alles wieder hochgekommen.« Ich blickte sie angemessen besorgt an. »Eine Tante, die Schwester meiner Mutter, ist an Krebs erkrankt.« Ein kluger Schachzug von ihr. Damals waren wir Engländer gerade so weit, Krebs nicht mehr als »lange, tapfer ertragene Krankheit« zu umschreiben, aber noch immer graute uns vor dem Wort, in dem vielleicht nicht gerade etwas Beschämendes mitschwang, aber doch etwas um jeden Preis zu Vermeidendes. Die Diagnose galt gemeinhin als Todesurteil, und wenn man hörte, dass sich jemand einer Behandlung unterzog , verachtete man ihn fast, weil er nicht den Mumm hatte, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Wenn Lucy also das Wort »Krebs« aussprach, konnte sie sicher sein, dass sie meine Gedanken damit in andere Bahnen lenkte. Rückblickend ist es mir allerdings peinlich, wie leichtgläubig ich ihre Erklärung geschluckt habe.
»Das tut mir leid«, sagte ich. »Aber inzwischen kann man doch einiges tun.« Das sagte man so dahin wie eine Begrüßungsfloskel, auch wenn man kein Wort davon glaubte. Lucy nickte mechanisch, und wir tanzten weiter.
Terry oder wohl eher ihre Mutter hatte beschlossen, am Höhepunkt des Abends einen Kuchen anzuschneiden. Das war nicht üblich; wie bereits berichtet, wurde auf den Bällen bis zum Frühstück, das man kurz vor Schluss servierte, nichts verzehrt. Manchmal, keineswegs immer, gab es zwischendurch eine Rede mit einem Toast auf die Gastgeberin; meist stand ein alter Onkel auf und sagte, was für ein wunderbares Mädchen seine Nichte sei, wir erhoben
unsere Gläser, und das war’s. Solche Abweichungen von der Norm bargen gewisse Risiken, aber ohne sie wurde es manchmal ein wenig fade. Man kam, trank, tanzte und fuhr wieder nach Hause, ohne einen einzigen »jener Momente« erlebt zu haben, wie meine Mutter sie nannte, die wirklich hängen blieben. Dem Vater der Debütantin blieb dann nur die bittere Gewissheit, dass er Tausende und Abertausende für einen Abend hingeblättert hatte, an den sich niemand erinnern würde. Andererseits drohte immer die Gefahr, dass die Gäste Rede und Trinkspruch überflüssig fanden; schließlich war man nicht auf einer Hochzeit, also nicht auf Reden eingestellt. Vielleicht entschieden sich Terry und Verena auch deshalb für Kuchen und Ansprache, weil sie im Umgang mit den Regeln nicht ganz sattelfest waren.
Die durchs Haus schlendernden Gäste wurden vermutlich über die Lautsprecheranlage zusammengerufen, die sonst den Durchsagen an die Besucher diente. Lucy und ich waren ohnehin schon in den Saal der Könige zurückgekehrt und saßen ziemlich erschöpft an einem Tisch mit Georgina Waddilove und Richard Tremayne, einem seltsamen Paar, dem ein paar ausgesprochen lang weilige Angehörige des Hauses Hannover über die Schultern sahen. Einer von ihnen hatte Richards Ahnherrn, den ersten Herzog von Trent, zu verantworten – in einer wohl untypischen Nacht der Fleischeslust. Ich kann mich nicht entsinnen, warum Richard bei uns saß, wahrscheinlich, weil er müde war und woanders keinen Platz gefunden hatte.
Jeff Vitkov, der eigens für den Ball von New York eingeflogen und sichtlich entschlossen war, ein unvergessliches Zeichen zu setzen, nahm der Sängerin das Mikrofon ab und verkündete, er wolle nun einen Toast auf seine »junge und schöne Tochter und auf ihre sogar noch jüngere und schönere Mutter« ausbringen. Phrasen, die einem Engländer natürlich Schauer über den Rücken jagen. Wir hatten uns noch nicht davon erholt, als er hinzusetzte, wir würden alle gleich ein paar echte amerikanische Brownies zu kosten bekommen, um das Debüt eines »echten amerikanischen Mädels« – ächz – zu feiern. Abgesehen von der grauenhaft peinlichen Rührseligkeit des Ganzen dachte der Brite bei »Brownies« damals in erster Linie an
junge Pfadfinderinnen, die landauf, landab diesen Spitznamen trugen, und die Ankündigung, wir würden gleich ein paar davon vernaschen, erzeugte eine gewisse Heiterkeit. Jeff pries seine Tochter noch eine Weile weiter, dann übernahm Terry selbst das Mikrofon und erging sich in einem tränenseligen Dankeshymnus an »Pop und Mom«, ihre wunderbaren Eltern, während wir immer tiefer in unseren Stühlen versanken. Endlich nahm sie ein großes Messer und machte einen symbolischen Schnitt durch einen Berg aufeinandergetürmter Brownies. Auf dieses Signal hin erschien ein Trupp
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