Eine Klasse für sich
Waverly. Die Räume waren willkürlich umgemodelt worden, das Ergebnis waren Esszimmer voller Sofas und Wohnräume, in denen sich Tische und Stühle drängten; winzige Arbeitszimmer wurden von riesigen Kaminen beheizt, der kleine Ballsaal wies niedliche Schlafzimmerornamente auf. Der Zeitpunkt des Umbaus hätte ungünstiger nicht sein können, denn Baumaterial war in den Nachkriegsjahren rationiert, und so wurde fast alles aus Sperrholz und übermaltem Gips zusammengebastelt. Der Verlust der Eingangshalle erwies sich als Katastrophe und hob das gesamte Erdgeschoss
aus den Angeln, aber die Bibliothek war ein voller Erfolg und das Frühstückszimmer hübsch, wenn auch zu klein. Waverly wirkte nun irgendwie verloren, konfus, wie ein überstürzt in ein Hotel umgewandeltes Privathaus, dessen Räume nicht genug Zeit gehabt hatten, sich ihrer neuen Funktion anzupassen. Andrew hielt seinen Familiensitz selbstverständlich für einen Palast und jeden Besucher für so beglückt wie einen chinesischen Bauern, dem ein paar heilige Momente lang Zugang zu den Herrlichkeiten der Verbotenen Stadt gewährt wird.
Am Freitagnachmittag von London aufs Land zu fahren war mörderisch wie immer, und erst nach sechs Uhr kam ich endlich an und wankte mit meinem Koffer den tunnelartigen Korridor entlang. Serena tauchte aus einem Durchgang auf und sah mir entgegen, lässig und umwerfend in Rock und Bluse. »Schmeiß dein Zeug einfach hin. Du kannst später hochgehen. Jetzt komm erst mal und trink Tee.« Ich folgte ihr in die Bibliothek, wo sich mir einige Augenpaare zuwandten. Außer Candida und einem schon jetzt verdrossenen Andrew, der sich ostentativ in seine Country Life vertiefte, waren noch andere Leute da.
Die Jamiesons hatte ich schon einige Male in London gesehen, Hugh und Melissa Purbrick waren Bekannte einer alten Freundin meiner Mutter, ein sportliches Paar aus Norfolk, das außer Landwirtschaft und Jagd nicht viel im Sinn hatte, also alles unproblematische Gäste. »Möchtest du Tee? Oder einen Drink, den du mit nach oben nehmen kannst?«, fragte Serena, aber ich lehnte beides ab und setzte mich aufs Sofa zu Candida.
»Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen«, sagte sie. »Als ich nach Hause kam, blinkte mein Anrufbeantworter wie ein Rummelplatz bei Nacht. Ich dachte schon, ich hätte den Jackpot geknackt. Oder es wäre jemand gestorben. Aber alle Nachrichten waren von dir.« Candida hatte sich bei Weitem nicht so gut gehalten wie Serena. Ihre Haare waren grau, ihr grobes, faltiges Gesicht noch stärker gerötet als früher; über die Gründe wollte ich lieber nicht spekulieren. Im Gegensatz zu ihrer Cousine sah sie so alt aus, wie sie war. Aber sie hatte nun, wenigstens auf den ersten Eindruck, eine ganz andere, wesentlich angenehmere Art. Sie wirkte viel gelassener oder, besser gesagt, gelassen,
Punkt. Bien dans sa peau , wie die Franzosen sagen, und deshalb konnte ich ihr gleich viel herzlicher begegnen als in unseren Jugendjahren.
»Ich war wohl etwas übereifrig. Tut mir leid.«
Mit einem Kopfschütteln befreite sie uns beide von lästigen Entschuldigungen. »Ich sollte ihn vor einer Reise abschalten. Dann wüssten die Leute wenigstens, dass ich ihre Nachrichten nicht bekomme, und müssten es sich nicht selbst zusammenreimen.«
»Was hast du denn in Paris gemacht?«
»Ach, das war ein reiner Amüsiertrip. Ich habe eine kunstversessene Enkelin und konnte ihren Eltern die Erlaubnis abluchsen, ihr das Musée d’Orsay zu zeigen. In diesem Kunsttempel waren wir ungefähr drei Minuten, den Rest der Zeit haben wir mit Shoppen verbracht. « Sie lächelte, sichtlich neugierig, was ich eigentlich von ihr wollte. »Na, was gibt’s Sensationelles? Serena hat gesagt, du kämst als Abgesandter des großen Damian.«
»Gewissermaßen. Nein. Stimmt genau.«
»Du stöberst seine Freunde aus alten Zeiten auf.«
»Kann man so sagen.«
»Ich bin sehr geschmeichelt, dass ich dazugehöre. Wen hast du denn schon alles besucht?« Ich erzählte es ihr. »Jetzt fühle ich mich schon weniger geschmeichelt. Was für eine merkwürdige Liste.« Sie ließ die Namen innerlich Revue passieren. »Waren die nicht alle in Portugal dabei?«
»Alle bis auf Terry.«
Wieder dachte sie kurz nach. »Dieser Abend ist natürlich eine andere Geschichte.« Sie richtete stumm ihren Blick auf mich, in gemeinsamer Erinnerung. »Haben wir uns darüber schon mal unterhalten? «
»Nicht richtig. Wir haben uns seither kaum gesehen.«
»Das stimmt wohl.« Wieder
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