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Eine Klasse für sich

Eine Klasse für sich

Titel: Eine Klasse für sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Fellowes
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wahrscheinlich mich und alle in Hörweite davon in Kenntnis setzen, wie die Dinge zwischen den beiden Frauen standen. Manchmal frage ich mich, wie Menschen so erpicht darauf sein können, ihre unbefriedigende häusliche Situation vor Fremden auszubreiten. Wahrscheinlich können
sie ihrem Groll einzig unter diesen Umständen Luft machen, und das hat schon etwas Befreiendes für sie. Jedenfalls hatte ich begriffen. Derlei kommt schließlich öfter vor.
    Wie ich später erfuhr, hatte Candida in der Tat eine traurige Geschichte. Ihre Mutter war die Schwester von Lady Claremont gewesen, Serena Greshams Mutter, die beiden Mädchen waren also Cousinen ersten Grades. Doch Mrs. Finch starb, als sie noch keine vierzig war, und nachdem ihr verwitweter Mann, auf den die Familie ohnehin herabsah, seine Tränen getrocknet hatte, ging er eine in den Augen der Familie »unglückliche« Verbindung mit einer ehemaligen Immobilienmaklerin aus Godalming ein. Damit hatte Candida eine verhasste Stiefmutter am Hals, die ihr keine Hilfe war, und die Claremonts eine katastrophale Beinaheschwägerin. Aber es kam noch schlimmer. Candida war gerade dreizehn, da erlag Mr. Finch einem Herzinfarkt. Damit war das Mädchen ganz seiner Witwe ausgeliefert, der er jeden verbliebenen Penny hinterlassen hatte und obendrein das Sorgerecht für seine Tochter. Hier schaltete sich Candidas Tante ein, Lady Claremont, und versuchte die Zügel in die Hand zu nehmen. Aber Mrs. Finch aus Godalming ließ sich nicht beiseiteschubsen. Jeder Rat, in welche Schule man das Mädchen schicken solle, stieß bei ihr auf taube Ohren, und Lady Claremont konnte ihr nur unter größten Schwierigkeiten die Erlaubnis abringen, Candida die Saison mitmachen zu lassen, für deren Kosten Lady Claremont offenbar alleine aufkam. Kurz, Candida war in einer bedauernswerten Lage. Man hätte sicher mehr Anteil an ihrem Unglück genommen, wäre sie nicht in ihrer lauten, ungeschliffenen Art damit hausieren gegangen. Auch ihr Äußeres nahm nicht gerade für sie ein. Sie hatte die Gesichtsfarbe eines Bauarbeiters und dazu noch Sommersprossen. Ihr dunkles, störrisches Kraushaar machte es auch nicht besser, und ihre Nase hätte es mit Pinocchios aufnehmen können. Alles in allem hatte das Schicksal Candida Finch schlechte Karten zugeteilt.
    »Zeit zum Aufbruch!« Lady Dalton klatschte energisch in die Hände. »Wie kommen wir hin? Wer hat ein Auto?« Einige der Väter kippten rasch ihre doppelten Martinis hinunter und hoben die Hand.

    Ein Detail jener anderen Welt, in der ich einst lebte, wird nicht oft erwähnt, obwohl es sich auf jede Minute fast jedes Tages auswirkte: der Verkehr. Damals gab es nämlich keinen. Oder keinen im Vergleich zu heute. Die Blechlawine, die heute mitten an einem ganz normalen Vormittag durch London rollt, hätte man damals nur vor Weihnachten gesehen, am Freitagabend um sechs, wenn alle die Stadt verließen. Parkplatzprobleme waren unbekannt. Die Dauer einer Fahrt war identisch mit der reinen Fahrzeit. Das London, das die meisten von uns damals bewohnten, war immer noch klein, und selten verließ man die Wohnung länger als zehn Minuten vor einer Verabredung. Damit war der Alltagsstress erheblich geringer als heute.
    Ein anderer Unterschied betrifft die Wohngegend. Damals hatte sich die Oberschicht noch nicht aus ihren traditionellen Nistplätzen in Belgravia, Mayfair und Kensington herausbewegt. Für die ganz Abenteuerlustigen kam noch Chelsea infrage. Ich erinnere mich, wie meine Mutter an einem sehr hübschen georgianischen Reihenhaus in der Fulham Road vorbeifuhr. Ich bewunderte die Häuser, und sie nickte. »Die sind reizend«, sagte sie. »Jammerschade, dass man dort einfach nicht wohnen kann.« Und wenn schon Fulham keine adäquate Wohngegend mehr war, dann hatten natürlich Clapham oder schlimmer noch Wandsworth überhaupt keinen Platz auf ihrer inneren Landkarte. Das waren Gegenden, wo die Zugehfrau wohnte, oder wo man eine Fensterscheibe zuschneiden ließ, einen Teppich repariert bekam oder ein günstigeres Auktionshaus finden konnte. Das änderte sich bald, als meine Generation zu heiraten anfing und die Gentrifizierung der South Bank begann. Aber so weit war es Ende der Sechziger noch nicht. Ich erinnere mich deutlich, wie ich mit meinen Eltern einmal verarmte Freunde besuchte, die faute de mieux ein Haus in Battersea gekauft hatten, als die neue Ära gerade erst heraufdämmerte. Mein Vater saß am Steuer, meine Mutter las ihm sorgfältig die

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