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Eine Klasse für sich

Eine Klasse für sich

Titel: Eine Klasse für sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Fellowes
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uns erheblich früher dort einzufinden hatten als üblich. Geplant war, sich in der Londoner Wohnung der Daltons in Queensgate zu treffen und dann als Gruppe unverzüglich zum Grosvenor House aufzubrechen.
    Ich klingelte, und als der Summer ertönte (so etwas gab es damals
schon), drückte ich die Haustür auf. Die Tür der Erdgeschosswohnung muss in viktorianischen Zeiten einmal in das Esszimmer eines wohlhabenden großbürgerlichen Haushalts geführt haben; in den Sechzigerjahren war von diesem Esszimmer jedoch eine Diele abgezwackt worden, sodass nur ein mittelgroßes Wohnzimmer übrig blieb. Wie üblich hatte die Familie ein paar gute Stücke fürs Interieur der neuen Wohnung bewahrt, damit niemand ihren Rang unterschätzte, und so blickte von der Wand über dem Kamin, der wegen der Teilung des Raums merkwürdig verrutscht wirkte, Lucys Großmutter als neunzehnjähriges Mädchen starr auf uns herab, ein Porträt, das sehr nach Laszlo aussah. Die schiefen Raumproportionen wurden noch durch die damalige Mode betont, die Kaminöffnung mit einer glatten Sperrholzwand zu verbarrikadieren; davor installierte man dann oft noch ein elektrisches Kaminfeuer. Nichts zerstört die Atmosphäre eines Raums gründlicher als diese verkleideten Kamine, die damals allerdings jeder hatte. Man strebte nach modernen, schnittigen Linien, scheiterte aber kläglich.
    »Da bist du ja.« Lucy küsste mich rasch. »Na, graut’s dir schon?« Im Salon befanden sich vier weitere Mädchen, alle ganz in Weiß, ein aus Vorkriegszeiten überlebender Brauch, als die Debütantinnen zu ihrer ersten Vorstellung bei Hofe in Weiß erschienen. Die Mädchen trugen lange weiße Handschuhe und in den Haaren weiße Blüten. Diademe blieben den Müttern vorbehalten; Lady Dalton brillierte zu meiner Freude mit einem Prachtstück, das funkelnde Blitze in den Raum schoss, als sie liebenswürdig lächelnd auf mich zukam.
    »Wie nett von Ihnen, dass Sie mit uns kommen«, sagte sie und streckte mir ihre behandschuhte Hand entgegen.
    »Ich danke Ihnen, dass Sie mich eingeladen haben.«
    »Weiß Gott, zu welchen Mitteln wir hätten greifen müssen, wenn Sie abgelehnt hätten«, schnarrte ein ruppiger Offizierstyp, den ich richtig als Sir Marmaduke identifizierte. »Einen Bus ranwinken und jemand kurzerhand am Schlafittchen packen, vermutlich.« Bei Einladungen in letzter Minute hat man ja oft den Verdacht, dass bereits im Bodensatz des Fasses herumgekratzt wurde. Aber das so ins Gesicht gesagt zu bekommen, ist doch etwas ernüchternd.

    »Hören Sie gar nicht hin«, sagte seine Frau energisch und führte mich zu den anderen Gästen. Das Altersspektrum war breiter als üblich, da die Eltern der meisten Mädchen den Abend mit uns verbrachten. So lernte ich zwei joviale Bankleute samt Ehefrauen sowie eine sehr hübsche Italienerin kennen, Mrs. Wakefield, die mit Lady Daltons Cousin verheiratet und aus Shropshire angereist war, um ihre jüngste Tochter Carla in die Gesellschaft einzuführen. Dann wurde ich den Mädchen vorgestellt, unter anderem auch der reizlosen, rotgesichtigen Candida Finch, der ich schon begegnet war. Offen gestanden fand ich sie etwas anstrengend, aber wir waren darauf gedrillt, stets mit jedem Anwesenden Konversation zu machen, und so verfiel ich ohne große Mühe in den erforderlichen Small Talk, führte gemeinsame Bekannte an und erinnerte sie an diese und jene Party, auch wenn wir dort nie mehr als ein paar Worte miteinander gewechselt hatten. Sie nickte und antwortete höflich, aber wie immer zu laut, zu angriffslustig und des Öfteren mit einem plötzlichen, schrillen Auflachen, bei dem ich jedes Mal zusammenfuhr. Natürlich erkenne ich jetzt ihren unsäglichen Zorn auf alles, was ihr im Leben widerfahren war, aber als junger Mensch kann man ja so blind und herzlos sein. Ich sah zu den Erwachsenen hinüber, die am anderen Ende des Salons an ihren Cocktails nippten.
    »Ist deine Mutter auch da?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Meine Mutter ist tot. Sie ist gestorben, als ich noch ein Kind war.«
    Mit einer so schockierenden Antwort hatte ich natürlich nicht gerechnet; Candidas Stimme war rau vor Schmerz. Ich faselte herum, es täte mir leid, und ich hätte sie wohl verwechselt, als ich in einer Zeitschrift ein Foto von ihr und ihrer Mutter zu sehen glaubte. Darauf polterte sie los, diesmal geradezu vehement: »Du meinst meine Stiefmutter . Nein. Die ist nicht da. Gott sei Dank! « Ihr Ton war unmissverständlich, und der Ausruf am Ende sollte

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