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Eine Klasse für sich

Eine Klasse für sich

Titel: Eine Klasse für sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Fellowes
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nicht gefragt.« Er verzog leicht das Gesicht. »Georgina Waddilove. Brrrr!« Wir lächelten uns komplizenhaft zu, ein beschämender Treuebruch von mir. »Wo leihst du dir den Frack aus?«
    »Ich habe meinen eigenen«, sagte ich. »Von einem Cousin geerbt.
Ich glaube, er passt noch. Hat er jedenfalls, als ich Weihnachten auf einem Jagdball war.«
    Er nickte ein wenig verdrossen. »Klar hast du deinen eigenen. Das hätte ich mir denken können.« Die Stimmung war unmerklich gekippt. Er nippte an dem sauren Wein, den ich ihm eingegossen hatte. »Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich hingehe.«
    »Warum gehst du dann überhaupt?« Jetzt war ich wirklich neugierig.
    Er dachte kurz nach. »Weil ich kann«, sagte er.
    Kostümgeschichte ist an und für sich schon ein faszinierendes Gebiet, und interessanterweise werde ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Aussterben eines Kleidungsstücks miterleben, das eine lange Glanzzeit hinter sich hat: der Frack. Dank Mr. Brummell war der Frack vom Anfang des neunzehnten bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts für jedes gesellschaftliche Abendereignis das Herrenbekleidungsstück der Wahl, sozusagen das Erkennungszeichen der britischen Aristokratie. Als der Herzog von Rutland in den Zwanzigerjahren von seinem Schwager gefragt wurde, ob er denn je einen Smoking trage, dachte er kurz nach. »Wenn ich allein mit der Herzogin in ihrem Schlafzimmer diniere«, lautete seine Antwort.
    Es überraschte so manchen, dass der Frack den Krieg überlebte, da sechs Jahre Smoking und Uniform durchaus seinen Tod hätten besiegeln können. Aber dann ließ sich Christian Dior vom Kleidungsstil der Jahrhundertwende inspirieren, den Tournüren, Korsagen, Polstern und üppigen Futterstoffen, und schuf so eine luxuriöse Abendmode, neben der sich der kurze, langweilige Smoking als männliches Pendant denkbar dürftig ausnahm. Im Sommer 1950 gab die Countess von Leicester für ihre Tochter Lady Anne Coke in Holkham einen Ball, bei dem auch der König und die Königin zugegen waren. Der nächste Morgen hielt zwei Entdeckungen bereit. Erstens war ein Diener in den Brunnen gestürzt und ertrunken. Zweitens war der Frack definitiv wiedererstanden.
    Natürlich haben Dior und so viele andere nicht begriffen, dass der Frack nicht nur ein Stück Herrengarderobe, sondern ein Lebensstil war. Allerdings ein Lebensstil, der bereits tot war. Der Frack gehörte
zur alten Abmachung zwischen Aristokraten und den weniger vom Glück Begünstigten, dass Erstere einen Großteil des Tages in unbequemer Kleidung zu verbringen hätten, um ein überzeugendes, Sicherheit ausstrahlendes Bild von Macht zu vermitteln. Schließlich war Macht jahrhundertelang untrennbar mit Glanz und Gloria verbunden, bis in relativ neuer Zeit graue Tristesse die Regierung antrat. Vor dem ersten Weltkrieg war fünf – bis sechsmaliges Umziehen am Tag bei jeder ländlichen Hausgesellschaft de rigueur , zum Spaziergang, zur Jagd, zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Tee und zum Abendessen; in London brachte man es noch auf mindestens dreimal. Diese ermüdenden Kleiderrituale wurden von der Aristokratie penibel eingehalten, weil man sich einer simplen Tatsache bewusst war: Sobald man nicht mehr nach herrschender Klasse aussah, würde man bald aufhören, die herrschende Klasse zu sein. Unsere Politiker haben gerade erst gelernt, was der Adel seit tausend Jahren weiß: Kleider machen Leute.
    Warum ist der Frack dann so plötzlich verschwunden? Weil die Aristokratie nicht mehr an sich selbst glaubte. Nicht nur das Aussterben des Kammerdieners erwies sich für die Kleiderordnung als fatal. 1945 büßte die Oberschicht ihre innere Verve ein. Die Aushöhlung ihres Selbstvertrauens setzte sich immer weiter fort, bis Ende der Siebzigerjahre so gut wie alle Aristokraten im Leben der Nation ausgedient hatten und damit auch der Frack. Meine Generation war die letzte, die den Frack noch erlebt hat. Als ich achtzehn war, herrschte bei allen Jagdbällen wie auch bei den Jahresbällen der Universitäten Cambridge und Oxford noch Frackzwang. Einige Debütantinnenbälle versuchten daran festzuhalten, und ein Ereignis, bei dem sich jeder Mann widerspruchslos in den Frack warf, war der Queen Charlotte’s Ball.
    Dieser Ball war keine Privatveranstaltung, sondern ein Wohltätigkeitsball großen Stils, und als solcher unterlag er nicht den üblichen Regeln. Das fing schon damit an, dass dem eigentlichen Ball ein Galadinner vorausging. Das hieß, dass wir

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