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Eine Klasse für sich

Eine Klasse für sich

Titel: Eine Klasse für sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Fellowes
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hingekritzelte Wegbeschreibung vor. Als sich unser Ziel immer klarer abzeichnete, blickte sie von dem Zettel hoch. »Sind die verrückt geworden?«, fragte sie.
    Dabei muss man bedenken, dass bis Mitte der Sechzigerjahre überall in London relativ billiger Wohnraum zu haben war, deshalb
gab es keinen zwingenden Grund, die angestammten Gegenden zu verlassen, auch wenn man sich nicht unbedingt einen Palast leisten konnte. Wir wohnten einmal an der Ecke des Hereford Square, hinter dessen Westseite, so unglaublich es klingt, eine kleine Wiese lag, wo jemand ein Pony hielt. In der Ecke stand ein Cottage, das wahrscheinlich einmal zu irgendwelchen Stallungen gehört hatte. In meiner Kindheit Mitte der Fünfzigerjahre wohnte dort ein nicht sehr erfolgreicher Schauspieler mit seiner Frau, einer Töpferin, reizende Leute, mit denen wir viel verkehrten, vermutlich arm wie Kirchenmäuse. Trotzdem konnten sie sich ein Cottage am Rand eines feudalen Platzes leisten. Dreißig Jahre später habe ich das Cottage wieder betreten. Es war an einen Hollywoodstar vermietet, der gerade einen Film in den Pinewood-Studios drehte. Vor Kurzem wurde es für sieben Millionen verkauft.
    Durch diesen Immobilienboom verloren nicht nur viele Anwohner ihr Zuhause, auch mit der »bunten Mischung« der Londoner Bevölkerung hatte es ein Ende. Mittellose Maler und Schriftsteller konnten nicht länger in den ehemaligen Stallungen, den Mews, in Knightsbridge oder hinter Wilton Crescent wohnen, wo sie in den Läden und im Postamt auf Gräfinnen und Millionäre trafen. Die Lehrer, Dichter, Professoren, Forscher, Schneiderinnen und Revoluzzer wurden vertrieben, es rückten die Banker nach. In meinen Augen ein Niedergang.
    Der Große Saal im Grosvenor House bot für das offizielle Einläuten der Saison den passenden Rahmen. Überall blitzte und blinkte dieser zeittypische, wichtigtuerisch unterkühlte Dekostil der Sechziger, »Euro-Glamour«, wie ihn Stephen Poliakoff so treffend benannt hat. Durch die Lobby gelangte man auf eine Art Galerie, von der aus eine breite, frei schwebende Treppe mit Aluminiumgeländer zum Saal mit seinem glänzenden Boden hinunterführte. Beim ersten Blick auf diese Pracht war ich plötzlich froh, dass ich mitgekommen war. Es war ein warmer Abend Anfang Juni, zu warm für uns junge Männer in unseren Kammgarn-Fräcken. Aber eine festliche Gesellschaft an einem lauen Sommerabend hat immer etwas von einem Versprechen. Auch wenn es meistens nicht eingelöst wird.

    Ich blieb einen Augenblick am Geländer stehen. Ein magischer Anblick von oben, dieser Ballsaal, durch den lauter blütengeschmückte Schwäne zu gleiten schienen. Man mag von dem Ritual halten, was man will, ich war jedenfalls glücklich, dass ich dabei war, als Lucy und ich nebeneinander hinunterschritten, lächelnd und nickend, wie man es eben so macht. Von der anderen Seite des Saals winkte mir Serena kurz zu, ein erhebender Moment. »An welchem Tisch sitzt sie?«, fragte ich.
    Lucy folgte meinem Blick. Ich brauchte ihr nicht zu erklären, wen ich meinte. »Am Tisch ihrer Mutter. Die Dame in Blau. Das Paar am Tischende sieht aus wie die Marlboroughs, und ich bin ziemlich sicher, dass die Dicke neben Lord Claremont eine dänische Prinzessin ist. Eine von Serenas Patinnen, glaube ich.« Ich beschloss, mich nicht aufzudrängen.
    Lucy blieb stehen. »Da ist dein Freund. Er schmiedet das Eisen, solange es heiß ist.« Ein paar Meter vor uns schäkerte Damian fröhlich mit Joanna Langley herum.
    Das wollte ich Lucy nun doch nicht durchgehen lassen. » Dein Freund ist er ja auch, wie ich gehört habe«, bemerkte ich mit einer gewissen Schärfe und erntete dafür einen kleinlauten Blick.
    Georgina stand neben den beiden und sah leicht verbittert zu, wie sie miteinander plauderten. Eine tragische Figur, die Arme. Das weiße Kleid, das fast allen anderen so gut stand, war für sie nicht ideal, sie erinnerte darin nur an ein riesiges Mandelflammeri. Die Blumen auf dem Berg künstlicher Locken sahen aus wie Papierschnipsel, die sich in einem Baum verfangen haben. Ich trat auf Damian zu. »Hast du deine Sachen mitgebracht?«
    Damian nickte. »Ist alles in der Garderobe.« Er lächelte Joanna an. »Ich darf heute Nacht bei ihm unterschlüpfen.«
    »Haben deine Eltern keine Wohnung in London?« Durch solche Fragen verriet Joanna gelegentlich ihre Herkunft. Oder zumindest, dass sie nicht zum harten Kern dieser Kreise gehörte. Auch rückblickend bin ich mir sicher, dass ihr jede

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