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Eine Klasse für sich

Eine Klasse für sich

Titel: Eine Klasse für sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Fellowes
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Arzt, der sie bei Margaret diagnostiziert hatte, glaubte das immer noch. Das war in einem Krankenhaus in Stoke. Da kannst du dir vorstellen, was wir durchgemacht haben.«
    »Was hat euch denn nach Stoke verschlagen?«
    »Ich kann mich gar nicht mehr erinnern. Ach ja, Philip hatte wohl diese Idee, eine alte Porzellanfabrik wiederzubeleben. Die hat sich aber nicht lange gehalten.« Wieder ein Einblick in Philips berufliche Fehlschläge. »Jedenfalls hat uns meine Mutter postwendend ins Auto verfrachtet und zu einem Spezialisten in die Harley Street gefahren. Der hatte eine bessere Prognose für uns.«
    »Dann konnte man die Krankheit also schon behandeln, als Margaret ein Baby war?«
    Lucy nickte; sie durchlebte noch einmal ihre Erleichterung. »Vollständig heilen, Gott sei Dank. Aber erst seit Kurzem. Etwa vier Jahre vorher war der Durchbruch gekommen. Wir haben ewig gebraucht, um uns von dem Schock zu erholen. Monatelang hatten wir immer noch Panik. Ich erinnere mich, wie ich einmal in der Nacht aufgestanden bin und gesehen habe, wie sich Philip über Margarets Bettchen beugte und weinte. Wir reden nie darüber, aber wenn ich mich jetzt über ihn ärgere, denke ich im Stillen an diesen Moment und verzeihe ihm.« Sie zögerte, in innerem Zwiespalt mit ihrer Wahrheitsliebe. »Oder versuche es wenigstens«, schob sie nach. Ich nickte;
das leuchtete mir ein. Der Philip, der im dunklen Kinderzimmer um sein unschuldiges Baby weinte, klang nicht nur viel sympathischer, sondern auch tausendmal interessanter als der Angeber auf den Bällen. Lucy war mit ihrem Bericht noch nicht zu Ende. »Nur eines konnten wir nicht begreifen: Dauernd erzählte man uns, die Krankheit würde ausschließlich durch Vererbung übertragen. Aber keiner von uns hatte in unseren Familien je davon gehört. Wir befragten unsere Eltern und so weiter, fanden aber keinen Anhaltspunkt.« Sie machte eine Pause. Vermutlich holte sie diese schmerzhaften Erinnerungen nicht oft aus der Versenkung. »Irgendwie glaube ich, dass Margarets Bedürfnis nach einem ganz normalen Leben wahrscheinlich von jener frühen Bedrohung kommt, an der sie fast gestorben wäre. Meinst du nicht auch?«
    Alle ihre Ausführungen trafen natürlich genau den Kern der Sache, die mich nach Kent geführt hatte, aber bevor ich etwas dazu sagen konnte, merkte ich, dass jemand in der Tür stand. »Hallo, Fremder. « Der aufgeschwemmte, angeschlagene Grauschopf erinnerte kaum noch an den jungen Mann, den ich als Philip Rawnsley-Price gekannt hatte. In unserer Jugend hatte Philip eine gewisse Ähnlichkeit mit einem viel attraktiveren, frech-fröhlichen Schauspieler gehabt, Barry Evans, der damals durch den Film Unterm Holderbusch bekannt wurde. Darin verkörperte er die vielen von uns, die gern in gewesen wären, aber nicht genau wussten, wie man das wird, eine Rolle, die ihm viel Popularität einbrachte.
    Wenn ich Philip so ansah, konnte ich mich schwer des Gefühls erwehren, dass auch ihm das Leben übel mitgespielt hatte. Er trug eine alte, fleckige Cordhose, abgewetzte Slipper und ein kariertes Hemd mit ausgefranstem, offenem Kragen. Alte Kleider waren anscheinend ein Markenzeichen der Familie. Wie ich hatte er ein Bäuchlein und schütteres Haar, im Gegensatz zu mir aber auch das rote, fleckige Gesicht eines Trinkers. Mehr als alles andere verriet ihn der müde Blick aus den Spiegeleieraugen mit den Hängelidern, ein Blick, der so typisch war für die Gescheiterten aus den oberen Schichten. Mit einer Grimasse, die er für ein schalkhaftes Grinsen hielt, streckte er mir die Hand entgegen. »Schön, dich zu sehen, altes Haus. Was führt
dich in unsere gottverlassene Ecke?« Er bemächtigte sich meiner Finger und quetschte sie mit jenem Schraubstock-Händedruck, mit dem solche Männer ihre nicht nachlassende Dynamik demonstrieren wollen. Lucy, die gerade in so lyrischen Tönen von ihm gesprochen hatte, schien sich jetzt über die Störung zu ärgern.
    »Was machst du denn hier? Wir wollten gleich nach dem Mittagessen rüberkommen. Wer ist im Laden?«
    »Gwen.«
    » Ganz allein? « Ein schneidender Vorwurf, der auch für meine Ohren bestimmt war und mir Philip offenbar als inkompetenten Trottel vorführen sollte. Noch vor einer Minute hatte uns das erschütternde Bild des tränenumflorten Papas bewegt, aber jetzt fand Lucy wohl den Hinweis angebracht, dass die Fehlschläge in ihrem Leben nicht auf ihr Konto gingen. Oberflächlich betrachtet war dieses Verhalten unlogisch und

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