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Eine Klasse für sich

Eine Klasse für sich

Titel: Eine Klasse für sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Fellowes
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Schwester immer schöner gefunden als Lucy. Sie sah aus wie die junge Deborah Kerr, und anders als ihre hibbelige Schwester strahlte sie eine souveräne Gelassenheit aus, die für ein Mädchen ihres Alters recht ungewöhnlich war. Wir fanden sie alle äußerst attraktiv, und zum unverhohlenen
Entzücken ihrer Mutter bahnte sich damals Vielversprechendes mit dem Erben eines großen Titels an; später hörte ich allerdings, dass nichts daraus geworden war. Ich merkte, dass meine Frage Lucys Fassade angekratzt hatte, und begriff, dass auch hier nicht alles zum Besten stand. Offenbar war die Zeit mit den Daltons recht unsanft umgesprungen. »Ich fürchte, Diana geht es im Moment nicht allzu gut. Auch sie ist geschieden, aber ihre Scheidung war eine ziemliche Schlammschlacht.«
    »Ich weiß, dass sie Peter Berwick letzten Endes doch nicht geheiratet hat.«
    »Nein, leider nicht, auch wenn ich nie geglaubt hätte, dass ich einmal ›leider‹ sagen würde. Ich fand ihn damals immer so hochnäsig und öde, aber rückblickend kommt er mir vor, als wäre er ein Geschenk des Himmels gewesen. Dianas Ex ist Amerikaner. Du kennst ihn wohl nicht, auch ich könnte gern darauf verzichten. Sie haben sich in Los Angeles kennengelernt, und er verspricht bis heute, dass er dorthin zurückkehrt, aber bisher waren das nur leere Sprüche. Bedauerlicherweise. «
    »Hat sie Kinder?«
    »Zwei. Aber die sind natürlich schon erwachsen. Ein Sohn ist in Australien, und die Tochter arbeitet in einem Kibbuz bei Tel Aviv. Das ist lästig, weil die ganze Verantwortung nun bei mir und Mummy liegt, seit Diana in psychiatrischer Behandlung ist.«
    Noch ein Satz, und mir wären die Tränen gekommen. Arme Lady Dalton, armer Sir Marmaduke. Was hatten sie getan, dass sie von den Furien so vernichtend abgestraft wurden? Bei unserem letzten Zusammentreffen waren sie noch beispielhafte Vertreter jener Klasse gewesen, die einmal die Geschicke des Empire geleitet hatte. Sie hatten ihre Güter verwaltet, ihre Rolle in der Grafschaft gespielt, das Dorf eingeschüchtert und waren ihren Pflichten nachgekommen. Und hatten, wie ich sehr gut wusste, für ihre Kinder von einer Zukunft geträumt, in der sich dieses Leben mehr oder weniger fortsetzen würde. Was dann wirklich eintraf, sprach diesen Träumen hohn. Mir fiel wieder ein, wie Lady Dalton mich auf dem Queen Charlotte’s Ball vorsichtig über meine Zukunftsaussichten ausgehorcht hatte. Was hatte
sie für ihre beiden hübschen, witzigen und hochwohlgeborenen Töchter für glänzende Partien geplant! Hätte das Universum großen Schaden genommen, wenn nur einer ihre Wünsche wahr geworden wäre? Stattdessen war das ganze Haus Dalton, dessen Errichtung Jahrhunderte in Anspruch genommen hatte, innerhalb von vierzig Jahren zusammengestürzt. Das Vermögen war dahin, das wenige übrig gebliebene Geld würden bald ein lebensuntüchtiger Sohn und ein geschäftsuntüchtiger Schwiegersohn aufgezehrt haben. Wenn die Kosten für die Behandlung der Tochter nicht schon vorher alles verschlangen. Und was hatten sie sich zuschulden kommen lassen? Die Eltern hatten nicht begriffen, wie sie auf die aktuellen Veränderungen reagieren sollten, und alle drei Kinder waren dem Sirenengesang der Sechzigerjahre erlegen, hatten auf trügerische Versprechungen gehört und auf die Schöne Neue Welt gesetzt.
    Jemand war an der Tür. »Mum. Hast du’s gekriegt?« Ich blickte hoch. Eine junge Frau von etwa zwanzig Jahren stand in der Tür. Sie war groß und eigentlich recht hübsch, hätte sie nicht eine Aura von Zorn um sich verbreitet, eine ungeduldige Gereiztheit, als ließen wir sie grundlos warten. Nicht zum ersten Mal stieß mir ein frappierendes Phänomen auf, ein weiteres Nebenprodukt der gesellschaftlichen Umwälzung der letzten vier Jahrzehnte: Eltern gehören heute oft einer ganz anderen Gesellschaftsschicht an als ihre Kinder. Die junge Frau war natürlich Lucys Tochter, aber sie sprach ein hässliches, hartes Cockney, und ein Fremder hätte von ihren Rastazöpfen und ihrer wenig soignierten Kleidung eher auf lange, harte Kämpfe in einer heruntergekommenen Wohnsiedlung geschlossen als auf Wochenenden beim Großvater, dem Baronet. Sie war etwa gleich alt wie Lucy damals, aber die beiden schienen aus unterschiedlichen Galaxien zu stammen. Warum nehmen Eltern das hin? Oder fällt es ihnen gar nicht auf? Ist es nicht ein Elementartrieb aller Lebewesen, den Nachkommen die eigenen Sitten und Lebensweisen anzutrainieren? Das

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