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Eine Klasse für sich

Eine Klasse für sich

Titel: Eine Klasse für sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Fellowes
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Sie suchte die Umgebung ab. »Simon, na endlich. Gut, dass er kommt.« Die Ablenkung holte sie vom Rand des Abgrunds zurück. Wahrscheinlich bedauerte sie ihre Enthüllungen bereits.
    Ein glänzendes Auto ausländischer Marke sauste die Zufahrt entlang. Während ich ihm mit den Augen folgte, überkam mich plötzlich ein glühender Wunsch. Lass es Damians Sohn sein, dachte ich. Bitte. Dieser Besuch ging mir nahe, ganz anders als der Besuch bei Lucy. Auf ihre konfuse Art würden die Rawnsley-Prices ihre Zukunft schon irgendwie meistern, mit Philips verrückten Plänen und ein wenig Glück und den Almosen anderer. Aber hier hatte ich das Gefühl, alte Freunde würden in einem schaurigen Gefängnis festgehalten, wegen eines Verbrechens, das sie nicht begangen hatten. Wie alle ihresgleichen hatte die alte Großherzogin eine übertriebene Angst vor Armut. Es wäre ohnehin nur eine relative, noble Armut, doch schon der Gedanke daran schien ihr unerträglich. Wahrscheinlich fand sie, dass sie in ihrem Leben schon genügend Veränderungen durchgemacht hatte, ein durchaus verzeihliches Gefühl. Für die Oberschicht und gar Angehörige von Herrscherdynastien, die an ein vornehmes Leben gewöhnt sind, ist es immer heikel, wenn sie mit Armut konfrontiert werden. Die meisten fürchten sich nicht nur vor kommenden Härten, sondern auch vor dem Gesichtsverlust, der den Einkommensverlust begleitet, und ertragen lieber die schlimmsten Demütigungen, als sich vor den Augen der Öffentlichkeit einzuschränken. Natürlich gibt es auch hier wieder eine Handvoll glücklicher Naturen, denen das alles egal ist.
    Vielleicht nahte auf der Zufahrt ja die Erlösung von allem Leiden. Ein schneller DNS-Test, und alle könnten diesen schrecklichen Despoten und ihre elende Existenz abschütteln. Dagmar und ihre Mutter könnten flüchten und leben, wie sie wollten, und William würde
in Zukunft allein an seinem Tisch sitzen und bis zum Ende seiner Tage poltern, toben und seine Dienstboten beleidigen. Ich fragte mich, wie wir Simon zu einem Test bewegen könnten. Hätte er Bedenken, Williams Gefühle zu verletzen? Hatte William überhaupt Gefühle? Dagmar hatte mich eingeholt und blieb neben mir stehen. Ein Stück vor uns warteten ihre Mutter und ihr Mann auf Simons Ankunft. »Es war sehr schön, dich wiederzusehen«, sagte ich. »Und deine so viel milder gewordene Mutter.« Ich wollte, dass sie mich als Freund betrachtete. Denn ich war einer geworden.
    Sie lächelte kurz, wurde dann aber wieder ernst. Sie hatte es bewusst so eingerichtet, dass wir noch einen Moment lang ohne Zuhörer miteinander reden konnten. »Ich hoffe, du nimmst meine Worte von vorhin nicht allzu ernst. Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist. Wahrscheinlich einfach Selbstmitleid.«
    »Mir wird kein Sterbenswörtchen über die Lippen kommen.«
    »Danke.« Die Sorgenfalte verschwand von ihrer Stirn. Der schimmernde Wagen parkte auf dem halbkreisförmigen Vorplatz, ein Mann Ende dreißig stieg aus. Er wandte sich uns zu und winkte.
    In diesem Augenblick war Dagmars Schicksal besiegelt, denn alle meine Fantasien, für diese verzweifelte Familie Superman zu spielen, zerplatzten wie eine Seifenblase. Vom Alter abgesehen hätte Simon Williams Zwillingsbruder sein können; von seiner Mutter war nichts an ihm zu entdecken. Augen, Nase, Mund, Haare, Kopf, Figur, Haltung, Gang – Vater und Sohn glichen sich wie ein Ei dem anderen. Dagmar bemerkte, wie ich ihn anstarrte, und lächelte. »Wie du siehst, ist er doch Williams Sohn!«
    »Eindeutig.« Wir erreichten meinen Wagen, und ich öffnete die Tür.
    »So war dann doch alles zum Besten«, sagte sie.
    »Natürlich. So ist es oft, egal, was sie uns im Fernsehen weismachen wollen«, erwiderte ich, stieg ein und nahm ihre glücklichere Zukunft mit mir. Einen Moment lang sah es aus, als wollte sie noch etwas sagen, aber dann überlegte sie es sich anders. Also sprach ich es an ihrer Stelle aus. »Ich werde Damian Grüße von dir ausrichten, wenn ich ihn sehe.«

    Sie lächelte. Ich hatte richtig geraten. »Bitte tu das. Die allerherzlichsten Grüße.« Sie sah sich um. »Willst du nicht noch kurz bleiben und Simon begrüßen?«
    »Lieber nicht. Ich bin schon spät dran, und Simon ist sicher müde. Im Vorbeifahren werde ich von euch das Bild einer harmonischen Familie mitnehmen.« Dagmar nickte mit einem ironischen Lächeln. Ich weiß, dass sie ganz froh über meinen Aufbruch war. Kein Wunder. Ich hatte die Sünde begangen, sie an

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