Eine Klasse für sich
binden. Aber noch am selben Abend hat er mir gesagt, dass das nie sein könne. Dass er mich gernhabe, aber …« Sie zuckte mit den Achseln, und plötzlich ging neben uns das einsame Mädchen mit dem gebrochenen Herzen, das sie vor vierzig Jahren gewesen war. »Und als dann meine Tage ausblieben, gab es für mich nur William oder die Abtreibungsklinik. Wenn man sieht, wie William mich heute behandelt, kommt es einem vielleicht merkwürdig vor, aber damals war ich ungeheuer erleichtert, als er um mich angehalten hat.«
»Das kann ich dir nachfühlen.«
Plötzlich fröstelte sie. »Ich hätte mir eine Strickjacke anziehen sollen«, sagte sie. Und dann, mit einem verlegenen Seitenblick: »Ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle.«
»Weil ich mich dafür interessiere«, erwiderte ich. Das war auch sicher der Grund. Schließlich waren wir in England. Sehr wenige Engländer stellen einer Frau persönliche Fragen. Stattdessen halten sie ihr Vorträge über einen neuen, besseren Schleichweg zur Autobahn oder brüsten sich mit ihren beruflichen Erfolgen. Wenn ein Mann tatsächlich einmal Interesse an seiner Tischnachbarin erkennen lässt, an ihren Gefühlen, an ihrem Leben, dann erzählt sie ihm in der Regel alles, was er wissen will.
Wir gingen an den Stallungen vorbei, die ein paar hundert Meter abseits des Haupthauses lagen. Die Gebäude stammten aus einer viel späteren Zeit, vielleicht aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts; die Hofmauer endete bei einem recht hübschen Häuschen, vielleicht für einen treuen Verwalter erbaut. Wir hatten es noch nicht erreicht, da öffnete sich die Tür, und eine alte Frau trat winkend heraus. Mit ihrem Tweedkostüm mit Halstuch sah sie aus wie jede x-beliebige ältere Landadelige. »Dagmar hat mir erzählt, dass Sie kommen«, rief sie über den Rasen, der uns noch von ihr trennte. »Da möchte ich Sie doch gern begrüßen.«
Ich starrte die verrunzelte, knochige Gestalt an, die mir entgegenkam. Konnte das wirklich die majestätische Großherzogin meiner Jugendjahre sein? Oder war ihr Kopf auf einen anderen Körper transplantiert worden? Wo war im wahrsten Sinne des Wortes ihr
Gewicht geblieben? Ihr Charisma, der Schrecken, den sie verbreitet hatte? Von alledem gab es keine Spur mehr. Nun war sie bei mir angelangt, und ich verbeugte mich. »Ma’am«, murmelte ich, aber sie schüttelte nur den Kopf und zog mich an sich, um mir einen trockenen Kuss auf beide Wangen zu drücken.
»Lassen wir doch diese Förmlichkeiten«, sagte sie fröhlich und hakte sich bei mir unter. Allein diese schlichte Geste sagte genug über den Erdrutsch aus, der seit unserer letzten Begegnung stattgefunden hatte. Vom Gefühl her begrüßte ich diese Veränderung zum Freundlichen, Entspannten. Aber alles in allem hatten wir wohl beide mehr verloren als gewonnen. Sie sah ihre Tochter an. »Ist Simon noch nicht da? Er hat mir gesagt, er wolle versuchen, zum Lunch zu kommen.«
»Er konnte anscheinend noch nicht weg. Aber er wird sicher bald da sein.« Dagmar lächelte ihre Mutter an, diese nette, umgängliche Rentnerin, die sich der Persönlichkeit dieser Kriegsherrin früherer Zeiten bemächtigt hatte. »Wir haben uns über Damian Baxter unterhalten.«
» Damian Baxter .« Die Großherzogin verdrehte die Augen, dann zwinkerte sie mir zu. »Wenn Sie wüssten, wie wegen dieses jungen Mannes die Fetzen zwischen uns geflogen sind!«
»Ich habe so etwas läuten hören.«
»Und jetzt ist er steinreich. Wer zuletzt lacht …« Sie hielt inne. »Egal, was sie Ihnen erzählt hat, meine Schuld war es nicht, dass die beiden nicht zusammenkamen. Mir dürfen Sie da keinen Vorwurf machen.«
»An wem lag es denn? «
»An ihm. An Damian ganz allein«, tönte sie im Brustton der Überzeugung. »Wir hielten ihn alle für einen Emporkömmling, einen Abenteurer, auf den großen Reibach aus. Auf seine eigene Art war er das ja auch.« Sie fuchtelte mir mit dem Zeigefinger unter der Nase herum. »Und Sie haben ihn angeschleppt. Wie wir Mütter Sie dafür verflucht haben!« Sie lachte herzlich. »Aber dann …« Und mit einem Mal, als sie sich Jahrzehnte zurückversetzte und nach den richtigen Worten suchte, nahm ihre Stimme fast verträumte Töne
an. »Im Grunde lag ihm gar nichts an unserem Lebensstil. Das habe ich damals nur nicht erkannt. Er wollte selbst sehen, selbst erleben, wie es bei uns zugeht, aber nur als Reisender aus einem anderen Land. Er wollte nicht in der Vergangenheit hängen bleiben, wo er
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