Eine Krone für Alexander (German Edition)
Aber vorurteilsfrei
betrachtet, kann ihre Bilanz sich durchaus sehen lassen. Immerhin ist es ihr
gelungen, die Thraker aus dem Land zu halten, und als der Prätendent Pausanias
mit griechischen Söldnern in Makedonien einfiel, war sie es, die ihren
minderjährigen Söhnen den Thron rettete. Sie wandte sich an den athenischen
Strategen Iphikrates, der zu der Zeit in Thrakien zu tun hatte, und der
vertrieb Pausanias. Von Ptolemaios war dabei nirgendwo die Rede.“ Pankaste ließ
die Kithara sinken und sah auf. „Übrigens gab es in vielen Ländern weibliche
Herrscher, zum Beispiel die berühmte Semiramis in Babylon. Oder die karische
Königin Artemisia – Xerxes soll einmal gesagt haben, sie sei der einzige Mann
in seinem Heer. Warum also sollte eine Frau nicht Herrscherin oder Regentin sein,
sofern sie das Zeug dazu hat?“
Alexander starrte Pankaste an. Ihr kämpferischer Vortrag hatte
ihn komplett überrascht, ebenso wie ihre profunden Kenntnisse der makedonischen
Geschichte. Aber natürlich, ein gewisses Maß an Bildung und Informiertheit gehörte
zu den Voraussetzungen ihrer beruflichen Tätigkeit. Trotzdem vertrat Pankaste,
fand Alexander, manchmal reichlich extravagante Ansichten, besonders für eine
Hetäre.
Der Molosserkönig lachte. „Die Dame ist nicht nur wunderschön
und äußerst musikalisch, sondern auch klug und gebildet! Was deine Schwester
betrifft, so hat sie eine Menge Verstand und ist dazu auch enorm durchsetzungsfähig.“
„So?“ Beides war Alexander bislang nicht aufgefallen. „Aber
sie ist noch so jung.“
„Älter als du, als dein Vater dich zum ersten Mal als
Regenten eingesetzt hat.“
Alexander hatte schon immer gewusst, wann er auf verlorenem
Posten stand. Er hob seinen Becher. „Dann also auf unsere beiden Feldzüge gegen
die Barbaren – und auf Kleopatra, den weiblichen Antipatros!“
In der Nähe von Dion, im äußersten südlichen Zipfel Makedoniens,
lag das beschauliche Städtchen Leibethra. Es war nicht nur bekannt für die
sprichwörtlich geringe Intelligenz seiner Bewohner, sondern auch für das Grab
des mythischen Sängers Orpheus. Das Kultbild des Heiligtums war so alt, dass es
noch aus Zypressenholz gefertigt war. Während der Festlichkeiten in Dion tauchten
plötzlich Gerüchte auf, dass die Statue zu schwitzen begonnen hatte. Sofort
hieß es, dies sei ein schlechtes Omen für den bevorstehenden Feldzug in Asien.
Als Alexander Aristandros um Rat fragen wollte, war der nirgendwo auffindbar.
Er musste einen vollen Tag warten, ehe der Seher sich wieder sehen ließ.
„Es gibt keinen Grund zur Besorgnis“, versicherte
Aristandros. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und streckte seine langen,
mageren Beine aus. Seinen Seherstab hatte er lässig gegen die Tischkante
gelehnt. Der alte Mann wirkte mitgenommen. Eine Staubschicht überzog seine
Kleidung, seine Sandalen waren lehmverkrustet, denn die Straßen waren bereits
schlammig von den ersten Herbstregen. „Alle Vorzeichen deuten darauf hin, dass
der Feldzug den Segen der Götter findet.“
„Von Letzterem bin ich überzeugt“, erwiderte Alexander gereizt.
„Trotzdem können Gerüchte wie dieses großen Schaden anrichten.“
„Es handelt sich nicht um ein Gerücht. Ich komme gerade aus
Leibethra. Das Standbild schwitzt tatsächlich.“
Alexander starrte Aristandros erschrocken an. „Aber jeder
weiß, dass das Unheil bedeutet! Auch in Theben haben die Götterbilder
geschwitzt, unmittelbar vor dem Untergang der Stadt.“
„Hier liegt der Fall anders. Um das Zeichen richtig deuten
zu können, müssen wir berücksichtigen, wer Orpheus war.“ Der Seher hob seinen
knochigen Zeigefinger und legte ihn an seinen Nasenrücken. „Also: Wer war
Orpheus?“
„Ein thrakischer Sänger.“
„Und weiter?“
„Der berühmteste Sänger aller Zeiten.“
Da Alexander keine Anstalten machte fortzufahren, übernahm
Aristandros die weiteren Erläuterungen. „Die Macht seiner Musik war so groß,
dass sogar die wilden Tiere kamen und sich zu seinen Füßen legten, um zu
lauschen, und sogar die Fische im Wasser schwammen herbei. Dabei lehrt
Aristoteles, dass Fische gar keine Ohren haben, weil es unter Wasser ohnehin
nichts zu hören gibt … egal. Schließlich verliebte sich Orpheus in Eurydike und
heiratete sie, und als sie starb, folgte er ihr ins Reich der Toten, um sie von
dort …“
„Das reicht“, sagte Alexander. „Worauf willst du hinaus?“
Aristandros löste seinen Finger von seiner Nase und hielt
ihn
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