Eine Krone für Alexander (German Edition)
ließ seinen Blick durch die Reihen der Schüler
wandern, die sich in einem der Vortragsräume drängten. Der Frühling kam in
diesem Jahr spät, und so waren alle noch immer gegen die Kälte in dicke Decken
eingepackt.
„Proteas?“
„Äh, mit Großkönig Xerxes? Er hat Griechenland vor, äh,
ziemlich langer Zeit überfallen, mit, äh, ziemlich vielen Kriegern.“
„Wann genau war das? Marsyas?“
„Vor einhundertneununddreißig Jahren. Aber begonnen hat es
schon früher, denn zehn Jahre zuvor waren die Perser schon einmal in Griechenland
eingefallen; damals besiegten die Athener sie bei Marathon. Und der allererste
Konflikt zwischen den Griechen und den Barbaren in Asien war natürlich der
Trojanische Krieg.“
„Sehr gut, Marsyas, danke.“
Seit der Nachricht von Hermeias’ Verhaftung schien Aristoteles
schwer angeschlagen zu sein, und Kallisthenes und Theophrastos hatten den größten
Teil des Unterrichts übernommen. Auch heute hielt sich Aristoteles wieder in
eine warme Decke gehüllt im Hintergrund. Sein Gesicht wirkte müde und verbraucht.
Kallisthenes zauberte unter seiner Decke eine Schriftrolle hervor und schwenkte
sie.
„Dies ist die Abschrift eines Sendschreibens, das Isokrates,
der bekannte athenische Redner und Schriftsteller, vor fünf Jahren an König
Philipp gerichtet hat. Darin ruft er ihn auf, die zerstrittenen Griechen
miteinander zu versöhnen, sich an die Spitze ihrer vereinten Streitkräfte zu
stellen und sie auf einen panhellenischen Rachezug gegen die Perser zu führen.
Wir müssen nicht die ganze Rolle lesen, sondern nur die wichtigsten Stellen.
Wer fängt an? Marsyas?“
Das Vorlesen des Sendschreibens nahm einige Zeit in Anspruch,
da Isokrates ebenso eloquent war wie so mancher der Vorleser unbeholfen. Als
sie sich endlich hindurchgekämpft hatten, fragte Kallisthenes: „Welche
Zielsetzung hat also der Feldzug, zu dem Isokrates den König aufruft?“
„Den Barbaren ihre Schätze wegzunehmen“, rief Proteas, der
zu einfachen Lösungen neigte.
„Vergeltung zu üben für die Verwüstungen, die Xerxes in
Griechenland angerichtet hat“, bemerkte ein anderer.
„Die ionischen Städte im Unteren Asien zu befreien.“
„Die Barbaren zu unterwerfen.“
„Alles richtig“, lobte Kallisthenes. „Ihr habt gut
aufgepasst. Du hast eine Frage, Attalos?“
„Gemäß Isokrates soll in Asien auch Siedlungsraum für die
Griechen erschlossen werden, etwa durch die Gründung von Kolonien. Doch das
Land dort ist bereits von anderen Völkern besiedelt, wie den Lydern, Phrygern
oder Karern. Was stellt sich Isokrates vor, was mit ihnen geschehen soll?“
„Eine berechtigte Frage. Isokrates will all diese fremden Völker
von der persischen Despotie befreien und sie der Fürsorge der Griechen unterstellen.“
„Bedeutet ‚unterstellen‘ im Klartext unterwerfen?“ Wie so
oft legte Attalos den Finger genau auf den wunden Punkt. „Sollen diese Völker
den Griechen etwa als Sklaven dienen, wie die Heloten bei den Spartanern?“
„So krass hat sich Isokrates nicht ausgedrückt, er spricht
ausdrücklich von Fürsorge und nicht von Versklavung. Aber natürlich geht er wie
alle vernünftigen Menschen davon aus, dass die Barbaren uns Griechen von Natur
aus unterlegen sind. Im Gegensatz zu uns sind sie nicht fähig, ein Leben in
Freiheit zu führen. So können sie von unserer Herrschaft nur profitieren.“
Attalos fragte hartnäckig weiter: „Vor einiger Zeit hat der
König einen Bündnisvertrag mit den Persern geschlossen – wie kann er dann
mitten im Frieden in ihr Territorium einfallen?“
„Die Perser sind unsere Erbfeinde“, erklärte Laomedon, ein
Grieche, dessen Familie ursprünglich aus Mytilene auf der Insel Lesbos stammte,
sich aber vor Jahren in Amphipolis niedergelassen hatte. „Deshalb brauchen wir
keinen besonderen Grund für einen Angriff. Isokrates sagt das auch.“
„Und der Vertrag?“, beharrte Attalos.
Laomedons Bruder Erigyios antwortete: „Den hat der König nur
geschlossen, damit die Perser ihm in Thrakien freie Hand lassen. Die Perser
sind Lügner und Betrüger. Ihnen gegenüber muss man sich an keinen Vertrag
halten. Sie selbst würden das auch nicht tun.“
Kallisthenes schaltete sich wieder in die Debatte ein.
„Hinzu kommt, dass die Perser noch immer unsere Landsleute drüben in Ionien
unterdrücken. Der Feldzug soll auch ihrer Befreiung dienen, denn es stellt
einen Verstoß gegen die göttlichen Ordnung dar, wenn Barbaren über
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