Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
auch schon eifrig dabei, funktionierende Telefone zu bauen, als Bell 1876 in Boston den Durchbruch schaffte. Gray bemühte sich sogar an dem Tag um ein vorläufiges Patent, als Bell seines anmeldete — er kam Gray nur um ein paar Stunden zuvor.
Bell wurde im selben Jahr wie Thomas Alva Edison geboren. Er wuchs in Edinburgh auf, wanderte aber 1870 mit seinen Eltern nach Kanada aus, wohl wegen einer Familientragödie — seine beiden Brüder starben innerhalb von drei Jahren an Tuberkulose. *
Während Bells Eltern eine Farm in Ontario betrieben, nahm er die Professur für Stimmphysiologie an der kurz zuvor gegründeten Boston University an, eine überraschende Ernennung, denn er besaß weder eine Ausbildung in Stimmphysiologie noch einen akademischen Titel. Eigentlich hatte er nur ein recht persönliches Interesse an Kommunikation. Seine Mutter war gehörlos und sein Vater eine internationale Koryphäe auf dem Gebiet der Rede-und Vortragskunst sowie der Sprecherziehung, zu einer Zeit, als Rede- und Sprechtechnik beinahe mit Ehrfurcht betrachtet wurden. Das Buch Der gute Vortragskünstler des älteren Bell hatte sich allein in den Vereinigten Staaten 250 000 Mal verkauft. Wie dem auch sei, Bells Posten an der Boston University war nicht ganz
* Auch Edisons Familie lebte bis kurz vor seiner Geburt in Kanada. Wer weiß, wie anders die nordamerikanische Geschichte verlaufen wäre, wenn Edison und Bell beide nördlich der Grenze geblieben wären und ihre Erfindungen dort gemacht hätten.
so toll, wie er klang. Der junge Mann war mit einem Salär von 25 Dollar bestallt, fünf Stunden Vorlesung in der Woche zu halten. Das war ihm aber gerade recht, denn es ließ ihm die notwendige Zeit, mit seinen Experimenten fortzufahren.
Um den Schwerhörigen zu helfen, suchte er Wege, Laute elektrisch zu verstärken. Bald fiel ihm auf, dass er die Ergebnisse seiner Arbeit auch benutzen konnte, um Stimmen über Entfernungen zu schicken und »sprechende Telegraphen«, wie er sie nannte, herzustellen. Und weil es doch ein sehr neues Entwicklungsgebiet war, heuerte er einen jungen Mann namens Thomas A. Watson als Hilfskraft an. Anfang 1875 stürzten sich die beiden in die Arbeit.
Nur ein gutes Jahr später, am zehnten März 1876, auf den Tag genau eine Woche nach Bells neunundzwanzigstem Geburtstag, fand der berühmteste Moment in der Geschichte der Telekommunikation in einem kleinen Labor am Exeter Place Nummer fünf in Boston statt. Da schüttete sich Bell aus Versehen ein wenig Säure auf den Schoß und stieß aus: »Mr.Watson, kommen Sie her, ich möchte Sie sehen«, und ein verblüffter Watson vernahm diese Worte in einem separaten Raum ganz deutlich. Jedenfalls erzählte Watson diese Geschichte fünfzig Jahre später in einer Reihe von Jubiläumsanzeigen, mit denen die Erfindung des Telefons gefeiert wurde. Bell, zu diesem Zeitpunkt schon vier Jahre tot, hatte die verschüttete Säure nie erwähnt, und es wäre auch, genauer bedacht, komisch, wenn ein Mensch, der plötzlich einen brennenden Schmerz verspürt, einen anderen, der gar nicht im selben Raum ist, seelenruhig um Hilfe bittet. Ja, mehr noch, weil der Prototyp des Telefons so primitiv war, konnte Watson die Worte nur hören, wenn er das Ohr auf eine vibrierende Membran drückte, und angesichts dessen wirkt es doch einen Hauch unwahrscheinlich, dass er das Ohr just für den Fall am »Hörer« hatte, dass Bell, vom Schmerz gepackt, ihn um Hilfe rufen würde. Wie auch immer die genauen Umstände waren, Bell hält in seinen Notizen fest, dass er Watson bat, zu ihm zu kommen, und dass Watson in dem anderen Raum die Bitte deutlich hörte. Der erste Telefonanruf der Geschichte hatte stattgefunden.
Watson verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihm die Geschichte zubilligt. Er wurde 1854 in Salem, Massachusetts, geboren (sieben Jahre später als Bell in Schottland), verließ die Schule mit vierzehn und arbeitete in verschiedenen mittelmäßigen Jobs, bis er sich mit Bell zusammentat. Die beiden Männer verband eine tiefe gegenseitige Achtung, ja, sogar Liebe, aber sie gingen trotz ihrer ein halbes Jahrhundert währenden Freundschaft nie so weit, sich beim Vornamen zu nennen. Man kann umöglich sagen, wie entscheidend Watsons Rolle bei der Erfindung des Telefons war, doch mehr als bloßer Assistent war er allemal. Während der sieben Jahre, die er für Bell arbeitete, erwarb er sechzig Patente auf seinen Namen, einschließlich eines für das charakteristische Klingeln, das
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