Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
besonders begnadeter Architekt, sondern Ingenieur beim römischen Heer. Wertvoll für die Geschichte wurde er zufällig, weil seine Schriften erhalten sind, als einziger Text über Architektur aus der klassischen Antike. Eine einsame Kopie wurde 1415 auf einem Regal in einem Schweizer Kloster entdeckt. Vitruv hatte in puncto Proportionen, Ordnung, Formen und Materialien ganz genaue Regeln aufgestellt. Regeln sind in seiner Welt das A und 0. Wie viel Platz zwischen Säulen in einer Reihe bleiben musste, durfte zum Beispiel weder Instinkt noch Gefühl überlassen werden, sondern wurde von strikten Vorschriften diktiert, die verlässlich Harmonie garantieren sollten. Das war bisweilen Schwindel erregend pingelig. Zum Beispiel:
Die Höhe aller rechteckigen Räume sollte so berechnet werden, dass man die gemessene Länge und Breite addiert, davon die Hälfte nimmt und das Resultat für die Höhe heranzieht. Im Falle von Exedren und quadratischen oeci [repräsentativen Räumen zum Empfang von Gästen] sollte indes die Höhe zum Eineinhalbfachen der Breite gebracht werden (...) Die Höhe des tablinum [auch ein repräsentativer Raum] soll am Türsturz ein Achtel mehr als seine Breite betragen. Seine Decke sollte diese Höhe um ein Drittel der Breite überschreiten. Die fauces [der Korridor zum Atrium] sollten im Falle von kleineren Atrien [Innenhöfen] zwei Drittel und im Falle eines größeren die Hälfte der Breite des tablinum haben. [...] Die Büsten von Ahnen mit ihren Ornamenten sollten in einer Höhe aufgestellt werden, die der Breite der alae [Flügel] entspricht. Die angemessene Höhe und Breite von Türen sollte, wenn sie dorisch sind, in der dorischen Art bemessen sein, wenn sie ionisch sind, in der ionischen Art, entsprechend den Regeln der Symmetrie, die im Vierten Buch zu Portalen gegeben werden.
Palladio folgte Vitruvs Überzeugung, dass alle Räume eine von sieben elementaren Formen haben sollten — rund, quadratisch oder fünf Typen von rechteckig — und dass bestimmte Räume immer in bestimmten Proportionen angelegt werden sollten. Speisezimmer zum Beispiel mussten doppelt so lang sein, wie sie breit waren. Nur die vorgeschlagenen Proportionen waren seiner Meinung nach angenehm. Warum, sagte er nicht. (Vitruv übrigens auch nicht.) Freilich folgte Palladio nur in etwa der Hälfte der Fälle seinen eigenen Regeln, von denen einige auch wirklich fragwürdig sind. Die Hierarchie bei Säulentypen — korinthische immer vor ionischen und ionische immer vor dorischen — scheint im Übrigen die Erfindung von Sebastiano Serlio zu sein, einem Zeitgenossen Palladios; Vitruv erwähnt diese Prinzipien nicht. Palladio wiederum machte sogar einen grundsätzlichen Fehler: Jede Villa, die er baute, stattete er mit einem Säulenportico aus, weil er offenbar nicht wusste, dass die nur römische Tempel hatten und Privathäuser nie. Und obwohl das unter dem Gesichtspunkt der Formtreue vollkommen falsch ist, hat man es wahrscheinlich am meisten kopiert. Vielleicht der schönste Fehler in der Geschichte der Architektur.
Hätte Palladio nur ein paar feine Häuser in Vicenza gebaut, wäre sein Name nie zum A djektiv geworden. Berühmt machte ihn ein im Jahre 1570, gegen Ende seines Lebens, veröffentlichtes Buch, I quattro Libri dell'architettura (Die vier Bücher über die Baukunst). Darin finden sich Grundrisse und Aufrisse, eine Darlegung seiner Prinzipien sowie allerlei nützliche, praktische Ratschläge; alles in allem jede Menge Regeln und Details — »Von der Höhe der Zimmer« bis hin zu den »Abmessungen der Türen und Fenster«. (Zum Beispiel: Man setze die Fenster nicht zu nahe an Ecken, denn sie schwächen die Gesamtkonstruktion). Es war das perfekte Buch für begüterte Amateure.
In der englischsprachigen Welt setzte sich als erster und wichtigster Fürsprecher Inigo Jones für Palladio ein. Der Bühnenbildner und autodidaktische Architekt entdeckte Palladios Arbeiten bei einem Besuch Italiens zwanzig Jahre nach dessen Tod und war unglaublich fasziniert, ja, besessen von ihm. Er kaufte jede Zeichnung von Palladio, die er in die Hand bekam — im Ganzen um die zweihundert —, lernte Italienisch und passte sogar seine Unterschrift der von Palladio an. Nach seiner Rückkehr nach England baute er bei jeder sich bietenden Gelegenheit palladianische Gebäude. Als erstes 1616 das Queen's House in Greenwich. Für den heutigen Betrachter ist es ein ziemlich monotoner rechteckiger Klotz, der an das Polizeipräsidium
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