Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
knapp 130000 Quadratkilometer—als jedwedes Getreide. Gras in häuslichen Gärten will das tun, was wildes Gras in der Natur tut: nämlich zu einer Höhe von sechzig Zentimetern wachsen, blühen, braun werden und absterben. Um es kurz und grün und ständig am Wachsen zu halten, muss man es ziemlich brutal behandeln und mit allerlei Zeug begießen. Im Westen der Vereinigten Staaten werden etwa sechzig Prozent des Wassers, das für die verschiedensten Verbrauchszwecke aus dem Hahn kommt, auf Rasenflächen versprüht. Schlimmer sind die Mengen an Unkraut- und Insektenvernichtungsmitteln — über dreißig Millionen Kilo im Jahr —, die man im Rasen versenkt. Es ist doch eine gewaltige Ironie der Geschichte, dass sich in der Pflege eines schönen Rasens die gärtnerischen Aktivitäten vieler Menschen heute erschöpfen.
Und mit diesem ein wenig resignativen Gedanken wollen wir ins Haus zurückkehren und das letzte Zimmer unten besuchen, bevor wir nach oben gehen.
Dreizehntes Kapitel
Das Pflaumenzimmer
I.
Wir nennen es das Pflaumenzimmer, weil die Wände pflaumenfarben angestrichen waren, als wir einzogen. Wie Pfarrer Marsham dieses Zimmer genannt hat, werden wir natürlich nie erfahren. Auf den Originalplänen wird es als Wohnzimmer geführt, doch wurde dieses bekanntlich in den Raum daneben verlegt im Zuge der Reorganisation, die den Bediensteten den für sie geplanten Rückzugsbereich nahm und dem Hausherrn dafür ein geräumiges Esszimmer bescherte. Wie auch immer das Pflaumenzimmer genannt wurde, es war eindeutig als gutes Zimmer, vermutlich zum Empfang besonderer Gäste, vorgesehen. Vielleicht diente es auch als Bibliothek, denn an einer Wand befinden sich eingebaute Bücherregale vom Boden bis zur Decke, auf denen man bestimmt sechshundert Bücher unterbringen konnte, in der Zeit eine stattliche Anzahl für einen Mann von Mr. Marshams Profession. Bücher zum Lesen konnten sich 1851 viele Leute leisten, doch Bücher zum Herzeigen blieben teuer; wenn also auf den Regalen des Herrn Pfarrer eine Sammlung Kalbslederbände mit Goldprägung standen, reichten die, um dem Zimmer seinen Namen, Bibliothek, zu geben.
Es scheint, als habe Mr. Marsham sehr viel Sorgfalt auf diesen Raum verwandt. Die Kranzleisten, die Holzeinfassung des Kamins und die Bücherregale in einem gemäßigt klassischen Stil zeugen von sorgsamer Auswahl und keiner Scheu vor Kosten. Musterbücher aus dem neunzehnten Jahrhundert boten Hausbesitzern eine fast grenzenlose Auswahl an formschönen Schmuckelementen mit nebulösen Namen — Echinus, Karnies, Spitzkehlung, Hohlkehlung, konkave Kehlung, Krabben, Zahnschnitt, Volutenspirale, sogar ein Lesbisches Kymation und mindestens zweihundert mehr —, mit denen sie vorstehende Holz- und Gipsflächen individuell gestalten konnten. Auch Mr. Marsham hat sich großzügig bedient und sich für einen blubbrigen Perlenrand für den Türrahmen, kannelierte Säulen an den Fenstern, über den Kaminvorsprung flatternde Girlanden mit Bändern und eine wahre Pracht an sich wiederholenden Halbkugeln im Eierstabmuster an den Deckenleisten entschieden.
Geschmacklich war das eigentlich zu der Zeit schon aus der Mode und verrät Mr. Marsham eher als Provinzler, doch heute sollten wir ihm dankbar sein, denn die klassizistischen Ornamente, die er auswählte, bringen uns schnurstracks zu einem überaus einflussreichen Architekten — wie es der Zufall so will, auch er eher ein Provinzler — sowie zu zwei interessanten Häusern, beide in den Vereinigten Staaten und beide das Werk von dortigen Provinzlern. Dieses Kapitel handelt also von Baustilen im privaten Umfeld und ein paar Landeiern, die etwas ganz Besonderes schufen. Beiläufig werden auch Bücher erwähnt — was ebenfalls gut passt, will ich hoffen, weil das Kapitel von einem Zimmer ausgeht, das ganz vielleicht einmal eine Bibliothek gewesen ist.
Um zu erfahren, wie sich die stilistischen Elemente des Pflaumenzimmers und vieles andere, das damals gebaut wurde, entwickelt haben, müssen wir Norfolk, ja auch England verlassen und uns in die sonnigen Ebenen Norditaliens, in die schöne, uralte Stadt Vicenza begeben, halbwegs zwischen Verona und Venedig im Veneto gelegen. Auf den ersten Blick sieht Vicenza wie alle anderen norditalienischen Städte seiner Größe aus, doch der gemeine Besucher wird bald von einer merkwürdigen Vertrautheit ergriffen. Jedes Mal, wenn er um eine Ecke biegt, steht er vor einem Gebäude, das er — fast ist es gespenstisch — schon
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