Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
drei Faktoren eine Rolle: Stufenhöhe, Auftrittsbreite und Steigung. Was den Steigungsgrad betrifft, sind die Menschen sehr empfindlich. Beim Hinaufgehen ist alles über 45 Grad unangenehm anstrengend und alles mit weniger als 27 Grad schneckenhaft langsam. Treppen hochzusteigen, die eine geringe Steigung haben, ist überraschend mühsam, der Bereich, in dem wir eine Treppe locker-flockig bewältigen können, ist klein. Ein unausweichliches Problem ist die Tatsache, dass Menschen sicher und ungefährdet in beide Richtungen gehen wollen, die Bewegungsabläufe aber in jeder Richtung verschiedene Haltungen erfordern. (Geht man eine Treppe hoch, beugt man sich vor, geht man hinunter, verlagert man seinen Schwerpunkt nach hinten, als bremse man.) Treppen, die man sicher und bequem hinaufsteigt, sind beim Hinuntergehen unter Umständen nicht so gut und umgekehrt. Wie weit die Stufenkante aus der Stufe vorragt, kann die Unfallwahrscheinlichkeit ebenfalls wesentlich beeinflussen. In einer idealen Welt würden die Treppen immer leicht ihre Form verändern, je nachdem, ob man hinauf- oder hinuntergeht. In unserer nicht idealen Welt ist jede Treppe ein Kompromiss.
Schauen wir uns einen Sturz in Zeitlupe an. Eine Treppe hinunterzugehen ist in gewissem Sinne ein kontrollierter Sturz. Man bewegt den Körper in einer Weise vorwärts und abwärts, die eindeutig gefährlich wäre, wenn man die Situation nicht beherrschte. Für das Gehirn besteht das Problem darin, den Moment zu erkennen, in dem ein Abstieg nicht mehr geordnet erfolgt, sondern verzweifelt unkoordiniert wird. Das menschliche Gehirn reagiert ja sehr schnell auf Gefahr und Unordnung, aber den Bruchteil einer Sekunde braucht es doch — 190 Millisekun- Alen, um genau zu sein —, bis die Reflexe einsetzen und der Verstand kapiert hat, dass etwas schiefläuft und er alles klar zum Gefecht machen muss, weil eine schwierige Landung ansteht. Während dieser ungeheuer kurzen Phase bewegt sich der Körper im Durchschnitt noch etwa 20 Zentimeter abwärts — da ist eine elegante Landung meist nicht mehr möglich. Wenn das Ganze auf der untersten Stufe passiert, landet man mit einem unangenehmen Rums, der mehr peinlich ist als sonst was. Wenn es aber weiter oben passiert, kriegen sich die Füße einfach nicht wieder ein (weder elegant noch sonst wie), und man kann nur hoffen, dass man das Geländer zu packen bekommt beziehungsweise dass es überhaupt ein Geländer gibt. Eine Untersuchung aus dem Jahre 1958 besagt, dass selbiges bei drei Vierteln aller Treppenstürze fehlte.
Am Anfang und Ende einer Treppe heißt es besonders vorsichtig sein. Offenbar sind wir dort am ehesten abgelenkt. Ein Drittel aller Treppenunfälle passiert auf der ersten oder der letzten Stufe und zwei Drittel auf den ersten drei oder letzten drei Stufen. Am gefährlichsten ist es, wenn eine einzige Stufe an einer unerwarteten Stelle kommt, und fast so gefährlich wird es, wenn es nur fünf oder weniger Stufen gibt. Sie scheinen zur Vermessenheit zu verleiten.
Hinunterzugehen ist im Übrigen gefährlicher als hinauf — was sich nach dem bisher Gesagten wahrscheinlich von selbst versteht. Über neunzig Prozent aller Verletzungen ziehen sich die Menschen beim Hinuntergehen zu. Die Chancen auf einen »schweren« Sturz betragen 57 Prozent auf einer geradläufigen Treppe, aber nur 37 Prozent auf einer wie auch immer gewendelten Treppe. Auch Treppenabsätze müssen eine bestimmte Größe haben — ideal ist die Formel: Breite einer Stufe plus Länge eines Schritts —, damit sie den Rhythmus des Treppenbenutzers nicht unterbrechen. Wenn der nämlich unterbrochen wird, ist das schon das Vorspiel zum Sturz.
Man erkannte auch, dass Menschen eine Treppe unterschiedlich schnell hinauf- und hinuntergehen, je nachdem, ob der Aufstieg kurz oder lang ist. Da dies ganz instinktiv geschieht, ist es am besten, wenn man breite Stufen bei kurzen Aufstiegen und schmalere bei steileren, längeren Aufstiegen hat. Aber die Klassiker der Architekturliteratur hatten überraschend wenig zur Anlage von Treppen zu sagen. Vitruv meinte nur, dass Treppen gut beleuchtet sein sollten. Seine Sorge galt nicht der Risikominimierung für Stürze, er wollte vielmehr verhindern, dass die Leute im Dunkeln auf der Treppe zusammenstießen. Erst Ende des siebzehnten Jahrhunderts ersann François Blondel, ein Franzose, eine Formel, die das Verhältnis zwischen Breite und Höhe der Stufe mathematisch erfasste. Grob vereinfacht schlug er vor, dass
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