Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Lage war unbeschreiblich. Ich konnte alles hören, was geschah, selbst ein Flüstern vor der Tür«, erzählte sie ihren Rettern. Doch sosehr sie sich auch zum Schreien habe zwingen wollen, sagte sie, sie habe es nicht gekonnt und keinen Laut hervorgebracht. In einem Bericht wird behauptet, dass von den 1200 Leichen, die zwischen 1860 und 1880 aus dem einen oder anderen Grund exhumiert wurden, sechs Zeichen von Umsichschlagen oder sonstigen Post-Bestattungs-Stress-Syndromen aufwiesen. Als der Naturforscher Frank Buckland, wie erwähnt, in der Kirche von St. Martin-in-the-Fields in London nach dem Sarg des Anatomen John Hunter suchte, sah er drei Särge, die eindeutig Zeiehen von Erregung im Inneren zeigten (glaubte er jedenfalls). Es gab unzählige Anekdoten über vorzeitige Begräbnisse. Ein Korrespondent des populären Journals Notes and Queries verfasste 1858 diesen Beitrag:
Vor circa fünfzehn Jahren starb ein reicher Manufakturbesitzer namens Oppelt im österreichischen Reichenberg, und seine Witwe und Kinder ließen auf dem Friedhof eine Gruft errichten, in der er bestattet wurde. Vor etwa einem Monat starb die Witwe und sollte in derselbigen Grabkammer beigesetzt werden; doch als man sie zu diesem Behufe öffnete, fand man den Sarg ihres Gemahls offen und leer und in einer Ecke der Gruft ein Skelett in sitzender Position.
Mindestens eine Generation lang erschienen solche Geschichten routinemäßig auch in seriösen Zeitschriften, und derartig viele Leute waren von der Angst, vor ihrer Zeit begraben zu werden, so krankhaft besessen, dass man ein Wort dafür prägte: Taphephobie. Der Schriftsteller Wilkie Collins legte jeden Abend einen Brief mit Anweisungen auf seinen Nachttisch, gemäß derer, falls er scheinbar tot aufgefunden würde, überprüft werden sollte, ob er wirklich im Schlaf gestorben sei. Andere Leute ordneten an, dass man ihnen vor dem Begräbnis den Kopf abschnitt oder das Herz entnahm, damit die Angelegenheit ein für alle Mal erledigt sei (wenn man es denn so ausdrücken möchte). Ein Autor schlug vor, »Wartehallen für Leichen« einzurichten, in denen man die Verstorbenen ein paar Tage aufbahren und abwarten konnte, ob sie auch wirklich tot und nicht nur ungewöhnlich still waren. Ein Mann mit mehr Unternehmergeist entwarf eine Anlage, mit der jemand, der in einem Sarg erwachte, an einer Schnur ziehen konnte, die ein Atemrohr für frische Luft öffnete, eine Glocke zum Klingeln und eine Flagge über der Erde zum Wehen brachte.
1899 wurde in Großbritannien eine Vereinigung zur Verhinderung von vorzeitigen Beerdigungen gegründet, im Jahr darauf eine in den Vereinigten Staaten. Beide Verbände schlugen eine Anzahl strenger Tests vor, die die Ärzte durchführen sollten, bevor sie einen Menschen für tot erklären durften, wie zum Beispiel ein heißes Bügeleisen an die Haut eines Verstorbenen halten, um zu sehen, ob Blasen entstanden. Eine Zeitlang wurden mehrere dieser Tests sogar in die Lehrpläne der Medizinfakultäten aufgenommen.
Im Übrigen machte man sich auch wegen Grabräuberei Sorgen — nicht grundlos, denn die Nachfrage nach frischen Leichen war im neunzehnten Jahrhundert beträchtlich. Allein in London gab es dreiundzwanzig Medizinfakultäten oder anatomische Lehranstalten, und jede brauchte eine stetige Zufuhr von Leichen. Bis zur Verabschiedung des Anatomiegesetzes 1832 konnten nur hingerichtete Verbrecher für Experimente und zum Sezieren benutzt werden, und Hinrichtungen gab es in England viel seltener, als man gemeinhin vermutet. 1831, in einem typischen Jahr, wurden 1600 Menschen zum Tode verurteilt, aber nur zweiundfünfzig hingerichtet. Legal konnte man sich also gar nicht so viele Versuchs- und Sezierobjekte beschaffen, wie man brauchte. Grabräuberei wurde zum unwiderstehlich verlockenden Geschäft, besonders, weil der Diebstahl einer Leiche dank einer juristischen Kuriosität nur ein Bagatelldelikt und kein Schwerverbrechen war. In einer Zeit, in der ein gut bezahlter Arbeiter vielleicht ein Pfund in der Woche verdiente, brachte ein frischer Leichnam acht bis zehn Pfund, manchmal sogar bis zu zwanzig und anfangs sogar ohne großes Risiko, denn die Täter mussten nur darauf achten, außer den Leichen nicht noch die Leichentücher, die Särge oder Grabbeigaben mitzunehmen. Für Letzteres konnten sie nämlich eines schweren Vergehens angeklagt werden.
Es war nicht nur ein makabres Interesse am Sezieren, das den Markt anheizte. In den Zeiten vor der Narkose mussten
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