Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
machen oder die Abseitsregel abschaffen.
2. Auf Grundlage dieser übermenschlichen Ordnung stellt die Religion Normen und Werte auf, die ihrer Ansicht nach bindend sind. Im Westen glauben heute viele Menschen an Geister, Elfen oder die Wiedergeburt, doch von diesem Glauben gehen keine allgemein verbindlichen Werte oder Verhaltensregeln aus, weshalb man nicht von einer Religion sprechen kann.
Eine Religion kann also als Legitimation für eine gesellschaftliche und politische Ordnung dienen, aber nicht jede Religion hat diese Möglichkeit genutzt. Um eine große Region mit sehr unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen einen zu können, muss eine Religion zwei Eigenschaften mitbringen: Erstens muss sie den Anspruch erheben, eine für alle Menschen verbindliche Ordnung zu sein, die immer und überall wahr ist, und zweitens muss sie darauf bestehen, diesen Glauben an alle Menschen weiterzugeben. Das heißt, sie muss universell sein und sie muss sich missionarisch betätigen.
Die großen Weltreligionen der Geschichte, zum Beispiel der Islam, das Christentum und der Buddhismus, sind missionierende Universalreligionen, und daher glauben viele Menschen, dass alle Religionen diese Eigenschaften haben müssen. In Wirklichkeit waren in der Vergangenheit die allermeisten Religionen auf überschaubare Regionen und Gruppen beschränkt. Nach allem, was wir heute wissen, kamen die missionierenden Universalreligionen erst im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung auf. Ihre Entstehung war eine der bedeutendsten Revolutionen der Geschichte und leistete einen entscheidenden Beitrag zur Vereinigung der Menschheit, genau wie die Imperien und das Geld.
Das Schweigen der Lämmer
Nach unserem heutigen Kenntnisstand waren die Jäger und Sammler Animisten. Sie glaubten, dass es auf der Welt nicht nur Menschen gibt, sondern zahlreiche andere Lebewesen, von denen jedes seine eigenen Persönlichkeiten, Bedürfnisse und Wünsche hatte. Daher mussten die menschlichen Normen und Werte auch die Interessen dieser anderen Wesen repräsentieren. Beispielsweise könnte eine Gruppe von Wildbeutern am Indus eine Regel aufgestellt haben, nach der es den Angehörigen der Gruppe verboten war, einen besonders großen Feigenbaum zu fällen, um den Geist dieses Baums nicht zu verärgern und seinen Zorn auf sich zu ziehen. Eine andere Gruppe am Ganges könnte die Regel aufgestellt haben, nach der die Jagd auf Füchse mit weißen Schwänzen verboten war, da ein Fuchs mit einem weißen Schwanz einmal einer weisen alten Frau erschienen war und ihr verraten hatte, wo ihr Klan wertvollen Obsidian finden konnte.
Die Vorstellungen dieser Religionen bezogen sich ausschließlich auf den Lebensraum einer Gruppe und auf die einmaligen Eigenschaften jedes Ortes, jeder Jahreszeit und jeder Naturerscheinung. Die meisten Jäger und Sammler verbrachten ihr gesamtes Leben in einem höchstens einige Hundert Quadratkilometer großen Territorium. Um zu überleben, mussten die Bewohner eines Tals die übermenschliche Ordnung kennen, die ihr Tal beherrschte, und ihr Verhalten darauf einstellen. Es hätte wenig Sinn gehabt, die Bewohner des Nachbartals davon überzeugen zu wollen, nach denselben Regeln zu leben. Die Menschen am Ganges machten sich nicht die Mühe, Missionare an den Indus zu entsenden, um die Menschen dort von der Jagd auf Füchse mit weißen Schwänzen abzuhalten.
Die landwirtschaftliche Revolution ging offenbar Hand in Hand mit einer religiösen Revolution. Die Wildbeuter jagten wild lebende Tiere und sammelten wild wachsende Pflanzen, die dem Homo sapiens ebenbürtig waren. Sie jagten zwar Schafe, doch sie betrachteten die Schafe deshalb noch lange nicht als minderwertige Wesen, genauso wenig wie sie glaubten, dass sie selbst weniger wert waren als die Tiger, nur weil sie von diesen gejagt wurden. Lebewesen kommunizierten direkt miteinander und handelten die Regeln aus, die in ihrem gemeinsamen Lebensraum herrschten. Im Gegensatz dazu lebten die Bauern davon, Tiere und Pflanzen zu besitzen und zu manipulieren, weshalb es ihnen schwerfiel, Tiere und Pflanzen als ebenbürtig zu begreifen oder gar mit ihnen zu verhandeln. Im Laufe der landwirtschaftlichen Revolution wurden die einst gleichberechtigten spirituellen Partner daher zu stummen Besitzgütern.
Dies führte jedoch zu einem Problem. Ein Bauer hätte sich natürlich gewünscht, seine Schafe völlig beherrschen zu können, doch er wusste, dass das unmöglich war. Er konnte sie zwar einsperren, einige
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