Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
Schicksalgöttinnen hießen, und Ananke, dem unpersönlichen Prinzip des Schicksals. Auch die Götter des germanischen Pantheons waren dem Schicksal unterworfen und gingen schließlich in der Götterdämmerung unter. In der polytheistischen Religion der westafrikanischen Yoruba waren alle Götter Kinder des obersten Gottes Olodumare und blieben seine Untertanen. Im hinduistischen Polytheismus beherrscht die Weltseele Atman sämtliche Götter, Geister und Menschen sowie die belebte und unbelebte Welt. Atman ist das unvergängliche Wesen des Universums sowie aller Lebewesen und Phänomene.
Polytheistische Religionen gehen jedoch von einer grundlegenden Erkenntnis aus, die sie von monotheistischen Religionen unterscheidet. Die höchste Macht des Universums hat keinerlei Vorlieben und interessiert sich nicht für die Wünsche, Sorgen und Nöte der Menschen. Es wäre völlig sinnlos, diese Macht um den Sieg in einer Schlacht, Gesundheit oder Regen zu bitten, da es aus ihrer allumfassenden Sicht vollkommen unerheblich ist, ob ein beliebiger König einen Krieg gewinnt oder verliert, ob sich ein Mensch von einer Krankheit erholt oder stirbt, oder ob ein Reich expandiert oder zusammenbricht. Daher machten sich die Griechen gar nicht erst die Mühe, den Schicksalsgöttinnen Opfer zu bringen, und die Hindus errichten keine Tempel für Atman.
Diese oberste Macht anzusprechen, wäre nur dann sinnvoll, wenn man alle irdischen Bedürfnisse hinter sich lässt und die Wirklichkeit so annimmt, wie sie ist – mit ihren Rückschlägen und Niederlagen, mit Armut, Krankheit und Tod. Einige Hindus, die sogenannten Sadhus oder Sannyasins, weihen ihr Leben der Vereinigung mit der Weltseele, durch die sie die Erleuchtung erlangen. Ihr Ziel besteht darin, die Welt aus der Sicht von Atman zu sehen und die Sinnlosigkeit aller Begierden und Ängste zu erkennen. Die meisten Hindus sind jedoch keine Sadhus. Sie stecken bis zum Hals im Morast der irdischen Nöte, und dort hilft ihnen Atman recht wenig. Um in diesen weltlichen Angelegenheiten nicht allein zu sein, wenden sie sich an die Götter. Gerade weil Götter wie Ganesha, Lakshmi oder Saraswati nur über sehr eingeschränkte Macht verfügen, sind sie voreingenommen und haben ihre eigenen Interessen. Daher können die Menschen Händel mit ihnen machen und ihnen Opfer bringen, um Schlachten zu gewinnen oder von Krankheiten zu genesen.
Genau das ist die entscheidende Erkenntnis der polytheistischen Religionen: Die höchste Macht des Universums hat keinerlei Interessen; wenn wir bei der Lösung unserer irdischen Probleme Unterstützung benötigen, müssen wir uns an unvollkommene Mächte wenden, die sich beeinflussen lassen. Von diesen weniger mächtigen Göttern gibt es natürlich eine ganze Menge, denn wenn man die Allmacht eines obersten Prinzips aufteilt, erhält man natürlich mehr als eine Gottheit. Daher die Vielzahl der Götter.
Diese Erkenntnis macht in religiösen Dingen tolerant. Da Polytheisten einerseits an eine interesselose höchste Macht glauben und auf der anderen an eine Vielzahl von Untergottheiten, fällt es ihnen nicht weiter schwer zu glauben, dass neben den ihren auch noch andere Götter existieren können. Der Polytheismus ist daher an sich tolerant und verfolgt nur selten »Ketzer« und »Ungläubige«.
Selbst wenn Polytheisten große Reiche eroberten, versuchten sie nicht, ihre Untertanen zu ihren Göttern zu bekehren. Die Ägypter, Römer und Azteken schickten keine Missionare in ferne Provinzen, um den Kult von Osiris, Jupiter oder Huitzilopochtli (dem Hauptgott der Azteken) zu verbreiten, und sie entsandten zu diesem Zweck schon gar keine Armeen. Die unterworfenen Völker mussten zwar die Götter und Rituale des Imperiums respektieren, da diese das Imperium beschützten und ihm seine Legitimation gaben. Doch ihre eigenen Götter und Rituale mussten sie deswegen nicht aufgeben. Unter der Herrschaft der Azteken mussten die unterworfenen Völker zwar Tempel für Huitzilopochtli errichten, doch diese Tempel standen neben denen der eigenen Stammesgötter. In vielen Fällen nahm die Elite des Imperiums sogar die Götter und Rituale unterworfener Völker an. Die Römer nahmen beispielsweise die asiatische Göttin Cybele oder die ägyptische Göttin Isis in ihren Götterhimmel auf.
Der einzige Gott, den die Römer lange Zeit nicht duldeten, war der monotheistische und missionierende Gott der Christen. Die Römer verlangten gar nicht, dass die Christen ihren Glauben
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