Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
taufte das Gebäude und die Stadt zwar um, doch verständlicherweise hatte sie kein Interesse daran, den prächtigen Bau abzureißen, auch wenn er von den ehemaligen Unterdrückern stammte.
20. Das Taj Mahal – Beispiel der »ursprünglichen« indischen Kultur oder eine fremde Schöpfung des muslimischen Imperialismus?
Wenn wir uns völlig von den Hinterlassenschaften eines grausamen Imperiums lossagen wollten, um zu einer vermeintlich ursprünglichen Kultur zurückzukehren, die ihm voranging, dann laufen wir Gefahr, einem älteren und nicht weniger grausamen Imperium das Wort zu reden. Wer gegen die Entstellung der indischen Kultur durch die britische Kolonialherrschaft wettert, läuft Gefahr, das Erbe des Mogulreichs und des kriegerischen Sultanats von Delhi zu verteidigen. Und wer die »ursprüngliche indische Kultur« von den Einflüssen dieser muslimischen Reiche reinigen wollte, müsste das Erbe des Gupta-, des Kuschana- und des Maurya-Reichs feiern. Wenn ein hinduistischer Extremist alle Gebäude abreißen wollte, die irgendein Kolonialherr hinterlassen hat, dann dürfte er nicht bei den britischen Hinterlassenschaften wie dem Hauptbahnhof von Mumbai stehen bleiben. Was wäre zum Beispiel mit den Gebäuden der muslimischen Eroberer, etwa dem Taj Mahal?
Die Frage nach dem kulturellen Erbe ist eine haarige Angelegenheit und im Grunde genommen nicht zu beantworten. Was wir auch immer von Weltreichen halten mögen: Wir sollten uns als Erstes eingestehen, dass es sich um ein kompliziertes Dilemma handelt und dass es nicht weiterführt, die Geschichte einfach in »Gute« und »Böse« einzuteilen. Es sei denn, wir geben zu, dass wir in die Fußstapfen der Bösen treten.
Das neue globale Imperium
Seit fast zweieinhalb Jahrtausenden leben die meisten Menschen unter der Herrschaft des einen oder anderen Imperiums. Und das könnte in Zukunft wieder so sein. Doch diesmal wird das Imperium die Bezeichnung Weltreich tatsächlich verdient haben. Die imperiale Vision eines einzigen Territoriums, das den gesamten Erdball umfasst, könnte schon bald Wirklichkeit werden.
Während des 20. Jahrhunderts war der Nationalstaat das große politische Ideal. Demnach ist »das Volk« der politische Souverän, von dem alle politische Macht ausgeht, und der Staat ist dazu da, die Interessen »des Volks« zu wahren. Daher galt es als der Weisheit letzter Schluss, dass jedes Volk seinen eigenen Staat haben muss. Für Weltreiche war da kein Platz mehr.
Doch seit Beginn des 21. Jahrhunderts verlieren die Nationalstaaten rasch an Boden. Immer mehr Menschen glauben, dass alle Macht nicht mehr von »dem Volk«, sondern von »der Menschheit« ausgeht, und dass die Wahrung der Rechte und Interessen aller Menschen das oberste Gebot der Politik sein sollte. Warum sollten wir fast 200 unabhängige Staaten finanzieren? Wenn Schweden, Indonesier und Nigerianer dieselben Menschenrechte haben, wäre es dann nicht einfacher, wenn eine einzige Regierung diese Rechte schützt?
Neue globale Probleme wie der Treibhauseffekt höhlen die verbleibende Legitimation der unabhängigen Nationalstaaten immer weiter aus. Kein souveräner Staat ist in der Lage, Probleme dieser Größenordnung allein in den Griff zu bekommen. Dazu wäre vermutlich eine mächtige Weltregierung erforderlich. Nach Ansicht der alten Chinesen gab der Himmel den Herrschenden den Auftrag, die Probleme der Menschheit zu lösen. Heute lautet der himmlische Auftrag, die Probleme des Himmels selbst zu lösen und zum Beispiel das Ozonloch zu schließen oder den besorgniserregenden Anstieg der Treibhausgase einzudämmen. Es ist gut denkbar, dass die Flagge des globalen Imperiums grün sein wird.
Heute gibt es fast 200 unabhängige Staaten, doch mit deren Souveränität ist es nicht mehr allzu weit her. Keiner dieser Staaten ist mehr in der Lage, eine eigenständige Wirtschaftspolitik zu gestalten oder nach Lust und Laune Kriege zu führen; nicht einmal ihre inneren Angelegenheiten können sie nach Gutdünken regeln. Die Nationalstaaten sind zunehmend der Spielball von Weltmärkten, Großkonzernen und internationalen Nichtregierungsorganisationen, sie werden von der Weltöffentlichkeit mit Argusaugen beobachtet und unterstehen dem internationalen Rechtssystem. Sie müssen ihr Finanzgebahren, ihre Umweltpolitik und ihr Rechtssystem an internationalen Vorgaben ausrichten. Die Welt wird von mächtigen internationalen Kapital-, Arbeits- und Informationsströmen gestaltet, die sich zunehmend
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