Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
beansprucht er die besten Leckerbissen für sich und hindert seine männlichen Untergebenen daran, sich mit den Weibchen zu paaren.
Wenn sich zwei Männchen um die Alpha-Position streiten, schmieden sie in der Regel große Allianzen von männlichen und weiblichen Unterstützern innerhalb der Gruppe. Die verbündeten Familienmitglieder pflegen ihre Beziehung in täglichem und intimem Kontakt, indem sie einander umarmen, berühren, küssen und lausen. Sie erweisen sich gegenseitig Gefälligkeiten und helfen einander aus der Patsche. Normalerweise setzt sich das Alphamännchen nicht deshalb an die Spitze des Rudels, weil es das Stärkere ist, sondern weil es sich ein großes und stabiles Unterstützernetzwerk aufgebaut hat.
Gruppen, die über diese intimen Bündnisse zusammengehalten werden, können eine bestimmte Größe nicht überschreiten. Wenn sie funktionieren sollen, müssen sich die einzelnen Angehörigen gut kennen. Zwei Schimpansen, die einander nie gesehen, nie miteinander gekämpft und einander nie die Läuse aus dem Pelz gesucht haben, wissen nicht, ob sie einander über den Weg trauen können, ob es sich lohnt, dem anderen zu helfen, oder welcher der beiden in der Rangordnung über dem anderen steht. Mit zunehmender Größe der Gruppe wird die soziale Bindung immer schwächer, bis sich irgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet.
In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bis fünfzig Tieren. Größere Gruppen sind instabil, und nur in wenigen Fällen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr als hundert Tieren gesichtet. Die verschiedenen Gruppen arbeiten nur selten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Futter. Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Horden beobachtet und beschreiben regelrechte »Völkermorde«, wenn eine Horde eine andere systematisch ausrottete. 4
Das Sozialleben der Frühmenschen sah ganz ähnlich aus, und die ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme. Auch Menschen haben soziale Instinkte, und dank ihrer konnten unsere Vorfahren Freundschaften knüpfen, Hierarchien aufbauen und gemeinsam jagen und kämpfen. Wie bei den Schimpansen waren diese sozialen Instinkte der Frühmenschen nur auf kleine und intime Gruppen ausgelegt. Wenn eine Gruppe zu groß wurde, verlor sie an Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf. Selbst wenn es in einem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung für fünfhundert Menschen gab, konnten unmöglich so viele Fremde zusammenleben. Wie sollten sie sich auf einen Rudelführer einigen, wer sollte wo jagen, wer durfte sich mit wem paaren?
Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen, mit Hilfe des Klatsches größere und stabilere Gruppen zu bilden. Aber auch der Klatsch hat seine Grenzen. Soziologen haben in Untersuchungen herausgefunden, dass eine »natürliche« Gruppe, die nur von Klatsch zusammengehalten wird, maximal aus 150 Personen bestehen kann. Mit mehr Menschen können wir keine engen Beziehungen pflegen, und über mehr Menschen können wir nicht effektiv tratschen. Das ist bis heute die magische Obergrenze unserer natürlichen Organisationsfähigkeit. Bis zu einer Größe von 150 Personen reichen enge Bekanntschaften und Gerüchte als Kitt für Gemeinschaften, Unternehmen, soziale Netzwerke und militärische Einheiten aus, und es sind keine Rangabzeichen, Titel und Gesetzbücher nötig, um Ordnung zu halten. 5
Beim Militär kann ein Zug mit dreißig oder eine Kompanie mit hundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funktionieren und benötigt nur ein Minimum von Befehl und Gehorsam. Ein erfahrener Feldwebel kann zur »Mutter der Kompanie« werden, und sogar ranghöhere Offiziere hören auf ihn. Ein kleines Familienunternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat, Vorstandsvorsitzenden und Finanzvorstand ein Vermögen verdienen. Aber sobald die magische Grenze von 150 überschritten ist, funktioniert dieses Prinzip nicht mehr. Eine Division mit 10000 Soldaten lässt sich nicht so führen wie eine Kompanie. Erfolgreiche Familienunternehmen geraten in eine Krise, sobald sie expandieren und mehr Personal einstellen müssen – wenn sie sich nicht neu erfinden können, gehen sie pleite.
Aber wie gelang es dem Homo sapiens, diese kritische Schwelle zu überwinden? Wie schaffte er es, Städte mit Zehntausenden Einwohnern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gründen? Sein Erfolgsgeheimnis war die fiktive Sprache. Eine große Zahl von wildfremden Menschen kann
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