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Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Titel: Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yuval Noah Harari
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gewöhnlicher Wein in das Blut Christi. Der Priester sprach die lateinische Formel »Hoc est corpus meum!« (zu Deutsch »das ist mein Leib«) und Hokuspokus! wurde das Brot zu Fleisch. Und nachdem der Priester alle nötigen Formeln gesprochen hatte, waren auch die Gläubigen überzeugt, dass es sich tatsächlich nicht mehr um Brot und Wein, sondern um den Leib und das Blut Christi handelte, und sie behandelten sie mit einer Ehrfurcht, die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nie entgegengebracht hätten.
    Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidende Geschichte im französischen Gesetzbuch, wie es vom französischen Parlament verabschiedet worden war. Nach diesem Gesetz musste ein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren, die erforderlichen bürokratischen Zaubersprüche und Eide auf ein mit Schnörkeln verziertes Papier schreiben, sein Siegel darunter setzen, und Hokuspokus! schon war ein neues Unternehmen gegründet. Nachdem der Notar alle nötigen Formeln gesprochen hatte, glaubten auch die Nachbarn von Peugeot, dass es nun zwei Peugeots gab: ihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen, die Peugeot AG. Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht, wie sie ein richtiges Unternehmen verdient hat.
    Es ist allerdings gar nicht so einfach, wirkungsvolle Geschichten zu erzählen. Zauberer und Priester müssen die Mächte, Zuständigkeiten und Launen der verschiedenen Götter, Geister und Dämonen gut kennen. Wenn Trockenheit herrscht und der Zauberer Regen heraufbeschwören will, muss er genau wissen, welches überirdische Wesen für Niederschläge zuständig ist. Kann zum Beispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren, oder ist dafür ausschließlich der Gott des Sturms verantwortlich? Genauso muss ein Anwalt wissen, was eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung tun kann und was nicht. Die Antwort auf diese Frage findet er in Geschichten, die von der Gesellschaft erfunden wurden – in diesem Fall in den reichlich spröden Geschichten, die wir »Unternehmensrecht« nennen. Anwälte, die sich auf das Unternehmensrecht spezialisiert haben, analysieren diese Geschichten tagaus, tagein mit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnern darüber, welche Eigenschaften ein bestimmtes Unternehmen nun genau mitbringt. Kann ein Unternehmen über ein Land herrschen? Kann es Kriege führen? Kann es in einer Branche eine Monopolstellung haben?
    Heute wird zum Beispiel heftig darüber gestritten, ob ein Unternehmen Patente und Urheberrechte an DNA -Sequenzen besitzen kann. Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das »Human Genome Project« ins Leben, das die gesamte DNA des Homo sapiens entschlüsseln sollte. Acht Jahre später wurde ein Privatunternehmen namens Celera gegründet, das denselben Zweck verfolgte. Obwohl die amerikanische Regierung einen großen Vorsprung hatte und viel Geld investierte, war Celera schneller und entschlüsselte als Erste das menschliche Genom. Sofort kam die Frage auf, ob Celera die Urheberrechte an den DNA -Sequenzen hatte und Gebühren von allen kassieren durfte, die dieses Wissen verwenden wollten. Mit anderen Worten: Kann eine juristische Fiktion Eigentümer unseres Genoms sein? Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit Nein. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.
    *
    Das alles wurde nur durch die Erfindung der fiktiven Sprache möglich, mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben können, die es in der physischen Realität gar nicht gibt. Der Löwenmensch, Peugeot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinen, sondern aus Geschichten. Im Laufe der Jahrhunderte haben wir ein unglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnen. In diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nur, sondern sie sind sogar ungeheuer mächtig. Sie haben mehr Macht als jeder Löwe und jedes Löwenrudel. Doch in Wirklichkeit gibt es sie nur in unseren Geschichten. Wenn wir plötzlich nicht mehr in der Lage wären, über Dinge zu sprechen, die es gar nicht gibt, würde Peugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm Aktienmärkte, Religionen, Staaten, Geld und Menschenrechte.
    Akademiker bezeichnen diese Dinge, die wir in Mythen und Geschichten erfinden, als »Fiktionen«, »soziale Konstrukte« oder »erfundene Wirklichkeit«. Aber Vorsicht: Eine erfundene Wirklichkeit ist keine Lüge. Ich lüge, wenn ich behaupte, dass ich am Fluss einen Löwen gesehen habe, obwohl ich genau weiß, dass das gar nicht stimmt.

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