Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
Tiefen des indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern treffen. Leider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spät dran.
Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens? Wie gelang es uns, so schnell so unterschiedliche und räumlich so weit auseinander liegende Lebensräume zu besiedeln? Wie haben wir es geschafft, alle anderen Menschenarten zu verdrängen? Warum überlebte nicht einmal der muskulöse, intelligente und kälteresistente Neandertaler unseren Ansturm? Die Debatte darüber verläuft hitzig. Die wahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument, mit dem diese Debatte geführt wird: Wenn der Homo sapiens die Welt eroberte, dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache.
1 Ann Gibbons, »Food for Thought: Did the First Cooked Meals Help Fuel the Dramatic Evolutionary Expansion of the Human Brain?«, Science 316:5831 (2007), S. 1558–1560.
2 In der Folge verwende ich für die Angehörigen der Art Homo sapiens die vereinfachte Bezeichnung »Sapiens« (und zwar für Singular und Plural, da das »s« am Ende des lateinischen Worts nicht für einen Plural steht). Wenn ich die Art als Ganze meine, verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung.
Kapitel 2 Der Baum der Erkenntnis
Die Sapiens, die vor 100000 Jahren in Ostafrika lebten, waren rein äußerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genauso große Gehirne. Aber dachten und sprachen sie auch wie wir? Vermutlich nicht. Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeilten Werkzeuge, vollbrachten keine auffälligen Leistungen und hatten gegenüber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil. Im Gegenteil, als sich einige von ihnen vor rund 100000 Jahren in den Nahen Osten vorwagten, in dem damals die Neandertaler lebten, konnten sie sich dort nicht lange halten. Wir wissen nicht, ob sie von ihren feindseligen Vettern, dem ungünstigen Klima oder unbekannten Parasiten vertrieben wurden, Tatsache ist jedenfalls, dass sich die Sapiens wieder zurückzogen und die Levante den Neandertalern überließen.
Das Scheitern dieser Unternehmung lässt darauf schließen, dass sich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich von unserem Gehirn unterschied. Sie sahen zwar äußerlich so aus wie wir, doch ihre kognitiven Fähigkeiten – ihre Lernfähigkeit, ihr Gedächtnis und ihre kommunikative Kompetenz – waren noch vergleichsweise begrenzt. Es hätte vermutlich wenig Zweck, diesen Ur-Sapiens eine moderne Sprache beibringen, sie in einer Religion unterweisen oder ihnen die Evolutionstheorie erklären zu wollen. Umgekehrt würde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen, ihre Sprache zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen.
Aber eines Tages, irgendwann vor 70000 Jahren, begann der Homo sapiens , erstaunliche Leistungen zu vollbringen. Damals verließen neue Gruppen von Sapiens den afrikanischen Kontinent. Dieses Mal vertrieben sie die Neandertaler und die übrigen Menschenarten, und zwar nicht nur aus dem Nahen Osten, sondern vom gesamten Planeten. Innerhalb kürzester Zeit breiteten sich die Sapiens bis nach Europa und Ostasien aus. Vor rund 45000 Jahren gelang es ihnen irgendwie, das offene Meer zu überqueren und bis nach Australien vorzudringen – einen Kontinent, auf den bis dahin noch kein Mensch seinen Fuß gesetzt hatte. Sie erfanden Boote, Öllampen, Pfeil und Bogen und sogar Nadeln (mit denen sie sich warme Kleider nähen konnten). Die ersten Gegenstände, die man als Kunst und Schmuck bezeichnen kann, stammen aus dieser Zeit, genau wie die ersten Hinweise auf Religion, Handel und gesellschaftliche Schichten.
Die meisten Forscher sehen in diesen beispiellosen Leistungen einen Hinweis darauf, dass die kognitiven Fähigkeiten des Homo sapiens einen Quantensprung gemacht hatten. Die Menschen, die den Neandertaler ausrotteten, Australien besiedelten und den Löwenmenschen schnitzten, dachten und sprachen bereits so wie wir. Wenn wir den Schöpfern dieser Elfenbeinfigur begegnen würden, dann könnten sie unsere Sprache lernen und wir ihre. Wir könnten ihnen unser Wissen vermitteln – von Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmechanik – und sie könnten uns erklären, wie sie die Welt sehen.
Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in dem Zeitraum, der vor rund 70000 Jahren begann und vor etwa 30000 Jahren endete, wird als kognitive Revolution bezeichnet. Was war der Auslöser dieser Revolution? Diese Frage lässt sich nicht beantworten. Die gängigste Theorie geht
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