Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
effektiv zusammenarbeiten, wenn alle an gemeinsame Mythen glauben.
Jede großangelegte menschliche Unternehmung – angefangen von einem archaischen Stamm über eine antike Stadt bis zu einer mittelalterlichen Kirche oder einem modernen Staat – ist fest in gemeinsamen Geschichten verwurzelt, die nur in den Köpfen der Menschen existieren. Glaubensgemeinschaften basieren auf diesen kollektiven Mythen. Zwei Katholiken, die einander nie zuvor begegnet sind, verstehen einander ohne lange Erklärungen, weil beide glauben, dass es einen Gott gibt, der seinen Sohn auf die Erde geschickt hat, und dass dieser sich kreuzigen ließ, um die Menschheit von ihren Sünden zu erlösen. Zwei Serben, die einander nicht kennen, verstehen sich problemlos, weil sie beide an die Existenz der serbischen Nation, des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glauben. Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschaftlichen Mythen: Zwei Mitarbeiter von Google, die einander noch nie gesehen haben, können um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten, weil sie an die Existenz von Google, Aktien und Dollars glauben. Rechtsstaaten fußen auf gemeinsamen juristischen Mythen: Zwei wildfremde Anwälte können effektiv kooperieren, weil sie an die Existenz von Recht, Gesetz und Menschenrechten glauben.
Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten, die wir Menschen erfinden und einander erzählen. Götter, Nationen, Geld, Menschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht – sie existieren nur in unserer kollektiven Vorstellungswelt.
Dass »primitive Menschen« ihre Gesellschaft zusammenhalten, indem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer herumtanzen, verstehen wir sofort. Dabei übersehen wir gern, dass die fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschaft keinen Deut anders funktionieren. Ein gutes Beispiel sind die Großkonzerne: Im Grunde sind Unternehmer und Anwälte gar nichts anderes als mächtige Zauberer. Die Geschichten, die sich moderne Juristen erzählen, sind sogar noch viel sonderbarer als die der alten Schamanen. Warum das so ist, verrät uns die Legende von Peugeot.
Auf vielen Straßen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewundern, die entfernt an den Löwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert. Es ist die Kühlerfigur von Autos der Marke Peugeot, einer der ältesten und größten Kraftfahrzeughersteller in Europa. Peugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigney, das rund 300 Kilometer von der Stadel-Höhle entfernt im Westen von Frankreich liegt. Heute beschäftigt der Konzern weltweit rund 200000 Mitarbeiter, von denen sich die wenigsten je persönlich begegnet sind. Diese wildfremden Menschen arbeiten derart effektiv zusammen, dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 1,5 Millionen Fahrzeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte.
Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeot eigentlich? Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot, aber die sind natürlich nicht das Unternehmen. Selbst wenn alle Peugeots der Welt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestampft werden, verschwindet das Unternehmen nicht. Es produziert weiter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor. Das Unternehmen besitzt Fabrikhallen, Maschinen und Ausstellungsräume und beschäftigt Fließbandarbeiter, Buchhalter und Sekretärinnen, aber auch diese sind zusammengenommen nicht das Unternehmen Peugeot. Wenn eine Katastrophe sämtliche Fließbänder und Bürogebäude zerstören und sämtliche Peugeot-Mitarbeiter auslöschen würde, dann könnte das Unternehmen Kredite aufnehmen, neue Mitarbeiter anstellen, neue Fabrikhallen bauen und neue Fließbänder anschaffen. Peugeot hat Manager und Aktionäre, aber auch die sind nicht das Unternehmen. Selbst wenn alle Manager gefeuert und alle Aktien verkauft werden sollten, würde das Unternehmen selbst nach wie vor existieren.
Aber das bedeutet noch lange nicht, dass Peugeot unverwundbar oder unsterblich wäre. Wenn ein Gericht heute die Zerschlagung des Unternehmens anordnen würde, dann blieben die Fabriken, Arbeiter, Buchhalter, Manager und Aktionäre zwar erhalten, aber Peugeot wäre von einem Moment auf den anderen verschwunden. Man könnte fast den Eindruck bekommen, als wäre Peugeot gar nicht Teil unserer physischen Realität. Existiert es denn überhaupt?
5. Der Peugeot-Löwe
In Wirklichkeit ist Peugeot ein Produkt unserer kollektiven Phantasie. Das Wort »Phantasieprodukt« meint etwas, das nur erfunden
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