Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
begrenzten Mittel geht, müssen wir uns Fragen stellen wie: »Was ist wichtiger?« und »Was ist gut?« Das sind keine wissenschaftlichen Fragen. Die Wissenschaft kann zwar erklären, was es auf der Welt gibt, wie die Dinge funktionieren und wie die Zukunft aussehen könnte. Aber definitionsgemäß fragt sie nicht, wie die Zukunft aussehen sollte . Diese Fragen stellen nur Ideologien und Religionen.
Nehmen wir das folgende Dilemma: Zwei Biologinnen arbeiten in derselben Abteilung, bringen dieselben Qualifikationen mit und bewerben sich um Forschungsgelder in Höhe von einer Million Euro, um ihre unterschiedlichen Projekte zu finanzieren. Frau Koch will eine Krankheit erforschen, die das Euter einer Kuh befällt und deren Milchproduktion um 10 Prozent verringert. Frau Bühler will untersuchen, ob Kühe seelisch leiden, wenn sie von ihren Kälbern getrennt werden. Nehmen wir an, die Fördereinrichtung hat nur begrenzte Mittel zur Verfügung und kann nur eines der beiden Projekte fördern – für welches sollte sie sich entscheiden?
Diese Frage kann die Wissenschaft nicht selbst beantworten, denn es handelt sich um eine politische, wirtschaftliche oder religiöse Angelegenheit. In der Welt von heute hat Frau Koch eindeutig bessere Chancen, gefördert zu werden. Nicht, weil Euterkrankheiten von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus interessanter wären als die Psyche der Kuh, sondern weil die Milchindustrie, die von den Untersuchungen profitiert, mehr Geld in der Tasche hat und über größeren Einfluss verfügt als der Tierschutzverein.
In einer hinduistischen Gesellschaft, in der die Kühe als heilig gelten, oder in einer Gesellschaft, die sich für die Rechte der Tiere engagiert, hätte Frau Bühler möglicherweise bessere Aussichten. Aber solange Frau Bühler in einer Gesellschaft lebt, die vor allem am ökonomischen Potenzial der Forschung und der Gesundheit ihrer menschlichen Angehörigen interessiert ist, sollte sie diese Erwägungen in ihrem Förderantrag berücksichtigen und zum Beispiel schreiben: »Die Depression der Kühe beeinträchtigt die Milchproduktion. Wenn wir die Psyche der Kühe verstehen, können wir Psychopharmaka entwickeln, mit denen sich ihre Stimmung aufhellen und die Milchproduktion um 10 Prozent steigern lässt. Ich gehe davon aus, dass sich auf dem Markt für Rinderpsychopharmaka pro Jahr Gewinne von 250 Millionen Euro erzielen lassen.«
Die Wissenschaft ist nicht in der Lage, ihre eigenen Prioritäten zu setzen. Genauso wenig hat sie einen Einfluss darauf, was mit ihren Entdeckungen geschieht. Aus rein wissenschaftlicher Sicht ist es beispielsweise unklar, was wir mit unseren Erkenntnisse aus der Genforschung anfangen sollen. Sollten wir dieses Wissen nutzen, um Krebs zu heilen, eine Rasse von Übermenschen zu züchten oder Milchkühe mit Rieseneutern zu schaffen? Eine demokratische Regierung, ein kommunistischer Staat, ein nationalsozialistisches Regime und ein kapitalistisches Unternehmen würden dieselben wissenschaftlichen Erkenntnisse zu ganz unterschiedlichen Zwecken nutzen, und nur aus Sicht der Wissenschaft betrachtet gibt es keinen Grund, eine Nutzung der anderen vorzuziehen.
Vereinfacht gesagt kann sich die wissenschaftliche Forschung nur im Verbund mit einer Religion oder Ideologie entwickeln. Die Ideologie rechtfertigt die Kosten der Forschung. Im Gegenzug gibt sie die wissenschaftliche Agenda vor und bestimmt, was mit den Erkenntnissen passieren soll. Um zu verstehen, wie die Menschheit nach Alamogordo und auf den Mond kam, und keine der vielen anderen möglichen Richtungen einschlug, reicht es daher nicht aus, sich die Leistungen von Physikern, Biologen und Soziologen anzusehen. Wir müssen auch die politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Kräfte einbeziehen, die Physik, Biologie und Soziologie formten und sie in ganz bestimmte Richtungen lenkten.
Zwei Kräfte verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit: der Imperialismus und der Kapitalismus. Die Rückkopplung zwischen Wissenschaft, Imperium und Kapital war vermutlich in den vergangenen fünf Jahrhunderten der Motor der Geschichte. In den folgenden Kapiteln wollen wir uns mit diesem Motor beschäftigen. Zunächst schauen wir uns an, wie die zwei Turbinen Wissenschaft und Imperium aneinander gekoppelt waren, und dann untersuchen wir, wie beide mit der Geldpumpe des Kapitalismus verbunden wurden.
73 David Christian, Maps of Time: An Introduction to Big History (Berkeley: University of California Press, 2004),
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