Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
wenigen Überlebenden wurden von einem erbarmungslosen rassistischen System unterjocht. Für die australischen Aborigines und die neuseeländischen Maoris markierte die Cook-Expedition den Beginn einer Katastrophe, von der sie sich nie wieder erholten.
Noch schlimmer erging es den Ureinwohnern von Tasmanien. Nachdem sie zehntausend Jahre lang in Isolation überlebt hatten, wurden sie im Jahrhundert nach Cooks Ankunft vollständig ausgelöscht. Die europäischen Siedler vertrieben sie zunächst aus den fruchtbarsten Regionen der Insel, und als sie sich dann auch noch die Wildnis unter den Nagel reißen wollten, machten sie Jagd auf die Ureinwohner und ermordeten sie systematisch. Die wenigen Überlebenden wurden in einem christlichen Konzentrationslager zusammengepfercht, wo sie von wohlmeinenden aber ignoranten Missionaren indoktriniert und in der modernen Lebensweise unterwiesen wurden. Die Tasmanen sollten Lesen und Schreiben, die christliche Lehre sowie »nützliche Fähigkeiten« wie Nähen und Säen lernten. Doch sie weigerten sich. Stattdessen verfielen sie in Melancholie, bekamen keine Kinder mehr, verloren jegliches Interesse am Leben und wählten schließlich den einzigen Fluchtweg aus der modernen Welt der Wissenschaft und des Fortschritts – den Tod.
Doch selbst nach dem Tod wurden sie weiter von Wissenschaft und Fortschritt verfolgt. Im Namen der Erkenntnis bemächtigten sich Anthropologen und Museumsdirektoren der Leichen der letzten Tasmanier. Sie wurden seziert, gewogen, gemessen und in gelehrten Artikeln beschrieben. Ihre Schädel und Skelette wurden in Museen und anthropologischen Sammlungen ausgestellt. Erst 1976 bestattete das Tasmanian Museum das Skelett von Truganini, der letzten Ureinwohnerin Tasmaniens, die hundert Jahre zuvor gestorben war. Das English Royal College of Surgeons, die Königliche Chirurgenschule in Großbritannien, hatte noch bis 2002 Haar- und Hautproben von Truganini in ihrem Besitz.
Handelte es sich bei der Cook-Expedition um eine wissenschaftliche Erkundungsmission, die neues Wissen sammeln sollte und von Streitkräften begleitet wurde, die für ihren Schutz sorgen sollten? Oder handelte es sich um eine militärische Expedition, die neue Länder erobern sollte und von einigen Wissenschaftlern begleitet wurde, die sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen und einige Untersuchungen durchführen wollten? Beide Fragen kann man mit Ja beantworten. Die wissenschaftliche Revolution und der moderne Imperialismus sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Teilnehmer wie James Cook und der Botaniker Joseph Banks konnten Wissenschaft nicht vom Imperium unterscheiden. Genauso wenig wie die arme Truganini.
Warum ausgerechnet Europa?
Es gehört zu den erstaunlicheren Wendungen der Geschichte, dass die Bewohner einer Insel im Nordatlantik Ende des 18. Jahrhunderts einen Kontinent auf der Südhalbkugel des Planeten eroberten. Über Jahrtausende hinweg waren die Britischen Inseln und ganz Westeuropa nichts als ein unbedeutender Wurmfortsatz des Mittelmeerraums gewesen. Hier passierte nichts, was von Bedeutung gewesen wäre. Auch das Römische Reich, das einzige europäische Imperium, verdankte seinen Reichtum den Provinzen in Nordafrika, dem Balkan und dem Nahen Osten. Die westeuropäischen Provinzen Roms waren ein armer und unterentwickelter »Wilder Westen«, der außer Erzen und Sklaven nichts zu bieten hatte. Der Norden Europas war sogar derart verlassen und rückständig, dass sich die Römer gar nicht erst die Mühe machten, ihn zu erobern.
Erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde Europa zu einem Treibhaus militärischer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung. Zwischen 1500 und 1750 nahm Westeuropa an Fahrt auf und schwang sich zum Herrn des amerikanischen Doppelkontinents und der Weltmeere auf. Doch den asiatischen Großmächten waren die Europäer noch immer nicht gewachsen. Die Meere eroberten sie nur deshalb, weil sich die Herrscher des Ostens nicht dafür interessierten. Die frühe Neuzeit war das Goldene Zeitalter des Osmanischen Reichs im Mittelmeerraum, des Safawidenreichs in Persien, des Mogulreichs in Indien und der Ming- und Qing-Dynastien in China. Sie erweiterten ihre Territorien beträchtlich und genossen einen beispiellosen demographischen und wirtschaftlichen Aufschwung. Noch im Jahr 1775 zeichnete Asien für 80 Prozent der Weltwirtschaft verantwortlich. Indien und China machten zusammen allein zwei Drittel der weltweiten Produktion aus.
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