Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
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Auch Ägypten musste lernen, den langen Arm der britischen Kapitalisten zu respektieren. Im 19. Jahrhundert liehen britische und französische Investoren den ägyptischen Herrschern große Summen, zuerst zum Bau des Suezkanals und schließlich zur Finanzierung weniger erfolgreicher Projekte. Die Schulden Ägyptens wuchsen und die europäischen Gläubiger mischten sich zunehmend in die inneren Angelegenheiten des Landes ein. Im Jahr 1881 entlud sich der Zorn gegen die Europäer in einem Aufstand. Die Revolutionäre erklärten einen einseitigen Schuldenschnitt. Königin Victoria war »not amused«. Als Antwort marschierten die Briten in Ägypten ein und eroberten das Land. Ägypten blieb bis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs britisches Protektorat.
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Das waren bei Weitem nicht die einzigen Kriege, die im Interesse der Investoren geführt wurden. Einige Kriege wurden sogar auf dem Markt gehandelt, wie jede andere wirtschaftliche Unternehmung. Im Jahr 1821 erhoben sich beispielsweise die Griechen gegen das Osmanische Reich. Der Aufstand weckte große Sympathien in den liberalen Kreisen Großbritanniens, und der romantische Dichter Lord Byron brach sogar nach Griechenland auf, um an der Seite der Rebellen zu kämpfen. Aber auch gewiefte Bankiers witterten ein Geschäft. Sie schlugen den Rebellen die Ausgabe von Revolutionsanleihen vor, die frei an der Londoner Börse gehandelt wurden. Die Griechen versprachen, die Anleihen mit Zinsen zurückzuzahlen, sobald sie ihre Unabhängigkeit erkämpft hatten. Private Anleger kauften die Anleihen, weil sie von den Zinsen angelockt wurden, weil sie die griechische Sache unterstützen wollten, oder beides. Der Kurs der griechischen Revolutionsanleihen schwankte mit dem Kriegsglück auf den Schlachtfeldern des Balkan. Als die Niederlage der Griechen unabwendbar erschien, mussten die Besitzer der Anleihen fürchten, ihre Investition zu verlieren. Da das Interesse der Anleger gleichbedeutend mit dem nationalen Interesse war, wurde im Jahr 1827 eine von den Briten geführte internationale Flotte ins Mittelmeer entsandt, die in der Schlacht von Navarino die türkische Flotte versenkte. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung wurde Griechenland endlich unabhängig. Oder fast. Da das Land nämlich seine Schulden nicht zurückzahlen konnte, war seine Wirtschaft über Jahrzehnte hinweg an britische Gläubiger verpfändet.
Diese engen Verflechtungen zwischen Kapital und Politik hatten weitreichende Auswirkungen auf den Kreditmarkt. Die Verfügbarkeit von Krediten in einer Wirtschaft hängt nämlich nicht nur mit rein wirtschaftlichen Faktoren wie der Entdeckung eines Erdölvorkommens oder der Erfindung einer neuen Maschine zusammen, sondern auch mit politischen Ereignissen wie der Ablösung eines Regimes oder einer neuen Außenpolitik. Nach der Schlacht von Navarino waren die britischen Kapitalisten zunehmend bereit, in zweifelhafte Auslandsgeschäfte zu investieren. Wenn die Schuldner die Zahlung verweigerten, konnten sie schließlich davon ausgehen, dass die britische Armee ihnen ihr Geld schon zurückholen würde.
Genau deshalb ist das Rating, die Einstufung der Kreditwürdigkeit, heute viel wichtiger für das wirtschaftliche Wohl eines Landes als seine Rohstoffvorkommen. Die Kreditwürdigkeit ist ein Gradmesser für die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Land seine Kredite bedienen kann. Zu deren Ermittlung werden neben wirtschaftlichen auch politische, gesellschaftliche und sogar kulturelle Faktoren herangezogen. Ein Land mit großen Erdölvorkommen, das von einer Diktatur beherrscht wird, von Bürgerkriegen überzogen wird und unter einer korrupten Justiz leidet, erhält vermutlich eine schlechte Bewertung und bleibt arm, da es nicht in der Lage ist, die erforderlichen Kredite aufzunehmen, um die Ölvorkommen zu erschließen. Ein Land ohne Bodenschätze, das demokratisch regiert wird, in Frieden lebt und über einen funktionierenden Rechtsstaat verfügt, erhält dagegen gute Noten. Es kann daher genug billige Kredite aufnehmen, um ein gutes Bildungssystem auf die Beine zu stellen und eine boomende Hightech-Industrie aufzubauen.
Der Kult des Marktes
Nicht allen Kapitalisten gefällt dieses enge Bündnis von Kapital und Politik. Viele sind es leid, dass die wirtschaftlichen Positionen einer Regierung oft durch ihre politischen Interessen verzerrt werden, weshalb sie schlechte Investitionen tätigt und das Wachstum behindert. Sie beklagen, dass manche Regierung Unternehmen hart
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