Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
nicht ausweichen, ohne ihre Felder, Häuser und Schuppen zurückzulassen und den Hungertod zu riskieren. Daher blieben die Bauern und kämpften bis zum bitteren Ende.
Untersuchungen von Anthropologen und Archäologen zeigen, dass in einfachen landwirtschaftlichen Gesellschaften, die sich nicht über das Dorf oder den Stamm hinaus organisierten, etwa 15 Prozent aller Menschen eines gewaltsamen Todes starben; bei den Männern waren es gar 25 Prozent. Auf Neuguinea sterben noch immer 30 Prozent aller männlichen Angehörigen des Stammes der Dani an den Folgen von Gewalteinwirkung, und unter den Enga sind es 35 Prozent. Und in Ecuador könnten sogar 60 Prozent aller männlichen Krieger der Woaranis durch Menschenhand zu Tode kommen. 27 Im Laufe der Zeit wurde die Gewalt durch die Gründung von Städten, Reichen und Staaten eingedämmt, doch es dauerte Jahrtausende, um derart große und effektive Strukturen zu errichten.
Für uns, die wir in unseren modernen Industriegesellschaften leben, ist dies nur schwer nachvollziehbar. Wir leben in Wohlstand und Sicherheit, und da beides auf dem Fundament der landwirtschaftlichen Gesellschaft errichtet wurde, gehen wir davon aus, dass dies eine wunderbare Errungenschaft gewesen sein muss. Es wäre jedoch falsch, Jahrtausende der Geschichte im Rückblick zu beurteilen. Repräsentativer wäre die Sicht eines dreijährigen Mädchens im China des ersten Jahrhunderts, das an Unterernährung stirbt. Dieses Mädchen hat sich sicher nicht gesagt: »Wie schade, dass ich verhungere. Aber weil die Menschen in zweitausend Jahren genug zu essen haben und in klimatisierten Häusern wohnen, hat sich mein Leid gelohnt.«
Was also bot der Weizen diesem verhungernden Mädchen und den anderen Angehörigen der bäuerlichen Gesellschaften? Dem Einzelnen hatte er gar nichts zu bieten – wohl aber der Art des Homo sapiens . Der Weizenanbau bedeutet mehr Kalorien pro Fläche, und das wiederum ermöglichte dem Homo sapiens , sich exponentiell zu vermehren. Vor 15000 Jahren, als die Menschen noch Wildpflanzen sammelten und Wildtiere jagten, konnte die Region um die Oase von Jericho in Palästina eine Gruppe von etwa hundert mehr oder weniger gesunden Menschen ernähren. Vor 10500 Jahren, als die Wildpflanzen durch Weizenfelder ersetzt wurden, ernährte die Oase eine große Siedlung, in der sich tausend kränkliche und hungrige Menschen zusammendrängten.
Die Währung der Evolution ist weder Hunger noch Leid, sondern DNA . So wie sich der wirtschaftliche Erfolg eines Unternehmens in Dollar auf einem Bankkonto messen lässt, so lässt sich der evolutionäre Erfolg einer Art an der Anzahl der vorhandenen DNA -Moleküle messen. Wenn keine DNA mehr übrig ist, dann ist die Art ausgestorben, genau wie eine Firma Pleite geht, wenn sie kein Geld mehr hat. Wenn eine Art auf viele DNA -Moleküle verweisen kann, ist sie ein Erfolg und floriert. So gesehen sind tausend Exemplare besser als hundert. So funktioniert unterm Strich auch die landwirtschaftliche Revolution: Sie ernährte mehr Menschen, wenn auch unter schlechteren Bedingungen.
Aber warum sollten sich die Einzelnen für die Rechenspiele der Evolution interessieren? Warum sollte ein vernünftiger Mensch freiwillig seinen Lebensstandard senken, nur um mehr Sapiens- DNA in die Welt zu setzen? Aber diese Frage stellt sich so nicht, denn niemand entschied sich bewusst für dieses Tauschgeschäft. Die Menschen stimmten nicht über die landwirtschaftliche Revolution ab. Sie liefen in eine Falle.
Die Luxusfalle
Die landwirtschaftliche Revolution vollzog sich allmählich und dauerte Jahrhunderte und Jahrtausende. Eine Gruppe von Homo sapiens , die eben noch Pilze und Nüsse gesammelt und Hasen und Rehe gejagt hatte, zog nicht von einem Tag auf den anderen in Hütten, pflügte Felder, säte Weizen und schleppte Wasser vom Fluss heran. Der Wandel erfolgte in vielen Trippelschritten, von denen jeder nur eine winzige Veränderung des Alltags bedeutete.
Der Homo sapiens wanderte vor etwa 70000 Jahren im Nahen Osten ein. Dort lebte er die nächsten 50000 Jahre, ohne sich als Bauer zu betätigen. Es gab genug Ressourcen in der Region, um die menschliche Population zu ernähren. In guten Zeiten bekamen die Menschen mehr Kinder, in schlechten weniger. Beim Menschen wird die Fortpflanzung genau wie bei vielen Tierarten über hormonelle und genetische Mechanismen gesteuert. In guten Zeiten kommen die Mädchen früher in die Pubertät und werden eher schwanger, in
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