Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
aller Zeiten. In Regionen wie dem Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, wo vor zehntausend Jahren noch nicht ein einziger Weizenhalm wuchs, kann man heute Hunderte Kilometer fahren, ohne eine andere Pflanze zu sehen. Weltweit sind 2,25 Millionen Quadratkilometer (fast das Zehnfache der Fläche Großbritanniens) mit Weizen und nichts als Weizen bedeckt! Wie hat der Weizen das geschafft?
Indem er den armen Homo sapiens aufs Kreuz legte. Diese Affenart hatte bis vor zehntausend Jahren ein angenehmes Leben als Jäger und Sammler geführt, doch dann investierte sie immer mehr Energie in die Vermehrung des Weizens. Irgendwann ging das so weit, dass die Sapiens in aller Welt kaum noch etwas anderes taten, als sich von früh bis spät um diese Pflanze zu kümmern.
Das war harte Arbeit, denn der Weizen ist eine äußerst anspruchsvolle Pflanze. Er mag keine Steine, weshalb sich die Sapiens krumm buckelten, um sie von den Feldern zu sammeln. Er teilt seinen Lebensraum, sein Wasser und andere Nährstoffe nicht gern mit anderen Pflanzen, also jäteten die Sapiens tagein, tagaus unter der glühenden Sonne Unkraut. Der Weizen wurde leicht krank, also mussten die Sapiens nach Würmern und anderen Schädlingen Ausschau halten. Weizen kann sich nicht vor anderen Organismen wie Kaninchen und Heuschrecken schützen, die ihn gern fressen, weshalb die Bauern ihn schützen mussten. Weizen ist durstig, also schleppten die armen Sapiens Wasser aus Quellen und Flüssen herbei, um ihn zu bewässern. Und der Weizen ist hungrig, weshalb die Menschen Tierkot sammelten, um den Boden zu düngen, auf dem er wuchs.
Für derlei Arbeiten ist der Körper des Homo sapiens vollkommen ungeeignet. Er wurde von der Evolution geschaffen, auf Bäume zu klettern und hinter Gazellen herzujagen, und nicht Steine vom Boden aufzulesen und Wassereimer zu schleppen. Rücken, Knie, Gelenke und viele andere Körperteile zahlten einen hohen Preis für die landwirtschaftliche Revolution. Untersuchungen von fossilen Skeletten zeigen, dass der Übergang zur Landwirtschaft ein Füllhorn von Leiden mit sich brachte, von Rücken- und Gelenkschmerzen bis hin zu Leistenbrüchen. Die neuen Aufgaben der Landwirtschaft nahmen außerdem derart viel Zeit in Anspruch, dass sich die Menschen dauerhaft neben ihren Weizenfeldern niederlassen und ihre gesamte Lebensweise umstellen mussten. Nicht wir haben den Weizen domestiziert, der Weizen hat uns domestiziert. Das Wort »domestizieren« kommt von lateinischen Wort domus für »Haus«. Wer lebt eingesperrt in Häusern? Der Mensch, nicht der Weizen.
Aber wie brachte der Weizen den Homo sapiens dazu, sein relativ angenehmes Leben gegen eine derart armselige Existenz einzutauschen? Was hatte er als Entschädigung zu bieten? Eine bessere Ernährung war es jedenfalls nicht. Die Menschen waren schließlich Allesfresser, die sich über Jahrmillionen hinweg von einer sehr vielseitigen Kost ernährt hatten. Vor der Erfindung der Landwirtschaft hatten sie so gut wie keine Körner auf dem Speisezettel gehabt. Eine auf Getreide basierende Kost ist arm an Mineralien und Vitaminen, schwer verdaulich und ganz schlecht für Zähne und Zahnfleisch.
Der Weizen bot den Menschen auch keine größere wirtschaftliche Sicherheit. Im Gegenteil, das Leben der Bauern ist unsicherer als das der Jäger und Sammler. Wildbeuter ernährten sich von Dutzenden Tier- und Pflanzenarten und konnten daher auch schwere Zeiten durchstehen, ohne sich Vorräte anzulegen. Wenn eine Art ausfiel, gab es genug andere, auf die sie ausweichen konnten. Im Gegensatz dazu nahmen Bauern bis vor Kurzem einen Großteil ihres Kalorienbedarfs über eine Handvoll von Nutzpflanzen auf, oft sogar nur eine einzige. Wenn der Regen ausblieb, Heuschreckenschwärme einfielen oder diese Pflanze von Pilzen befallen wurde, starben die Bauern zu Tausenden oder Millionen.
Der Weizen bot auch keinen Schutz vor menschlicher Gewalt. Die ersten Bauern waren mindestens so gewalttätig wie ihre Vorfahren, wenn nicht gewalttätiger. Bauern hatten mehr Besitzgegenstände und benötigten Land, um ihre Pflanzen anzubauen. Wenn sie eine Weide an ihre Nachbarn verloren, konnte dies den Hungertod bedeuten, weshalb sie viel weniger Spielraum für Kompromisse hatten. Wenn Wildbeuter von einer rivalisierenden Gruppe bedrängt wurden, konnten sie ausweichen. Das war zwar schwierig und gefährlich, doch es war möglich. Wenn dagegen ein Bauerndorf von einem stärkeren Feind bedroht wurde, konnten die Bewohner
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