Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
Bauern.
Wissenschaftler waren lange der Ansicht, die Landwirtschaft habe sich von einem einzigen Gewächshaus im Nahen Osten in alle vier Himmelsrichtungen ausgebreitet. Heute ist sich die Forschung dagegen einig, dass die landwirtschaftliche Revolution nicht von den Bauern des Nahen Ostens exportiert wurde, sondern in verschiedenen Teilen der Welt völlig unabhängig begann. Die Menschen in Mittelamerika züchteten ihre Maiskolben und Bohnen, ohne etwas vom Weizen- und Erbsenanbau im Nahen Osten zu wissen. Die Menschen in Südamerika züchteten ihre Kartoffeln und Lamas, ohne von den Bauern in Mexiko oder der Levante gehört zu haben. Die ersten chinesischen Landwirte pflanzten Reis und Hirse und hielten Schweine. In Nordamerika waren es die Menschen irgendwann leid, im Unterholz nach Gürkchen zu suchen, und züchteten Kürbisse. Neuguinea hatte eine süße Revolution und bändigte Zuckerrohr und Bananen, während in Westafrika die ersten Bauern Hirse, Reis, Sorghum und Weizen zähmten. Von diesen Zentren ausgehend breitete sich die Landwirtschaft immer weiter aus. Im Jahr Null unserer modernen Zeitrechnung bestand die Menschheit zum überwiegenden Teil aus Bauern.
Aber warum kam es im Nahen Osten, in China und Mittelamerika zu einer landwirtschaftlichen Revolution, während sie in Australien, Skandinavien oder Südafrika ausblieb? Die Antwort ist ganz einfach: Die meisten Tier- und Pflanzenarten lassen sich nicht vom Menschen bezähmen. Die Sapiens konnten köstliche Trüffeln ausgraben und haarige Mammuts jagen, doch züchten konnten sie diese Arten nicht – dazu waren die Pilze zu komplex und die Mammuts zu wild. Von den vielen Tausend Arten, von denen sich die Jäger und Sammler ernährten, eigneten sich nur wenige zur Züchtung. Die landwirtschaftliche Revolution begann da, wo diese Arten vorkamen.
Karte 2. Orte und Daten der landwirtschaftlichen Revolutionen. Die Daten sind strittig, und mit jedem neuen archäologischen Fund muss die Karte korrigiert werden. 26
*
Lange wollte uns die Wissenschaft den Übergang zur Landwirtschaft als großen Sprung für die Menschheit verkaufen und erzählte uns eine Geschichte von Fortschritt und Intelligenz. Im Laufe der Evolution seien die Menschen immer intelligenter geworden. Irgendwann seien sie dann so intelligent gewesen, dass sie die Geheimnisse der Natur entschlüsseln konnten und lernten, Schafe zu halten und Weizen anzubauen. Danach gaben sie begeistert das entbehrungsreiche und gefährliche Leben der Jäger und Sammler auf und ließen sich nieder, um als Bauern ein angenehmes Dasein im Wohlstand zu genießen.
Das ist jedoch ein Ammenmärchen. Es ist keineswegs bewiesen, dass die Menschen im Laufe ihrer Evolution immer intelligenter wurden. Die Wildbeuter kannten die Geheimnisse der Natur schon lange vor der landwirtschaftlichen Revolution, denn ihr Überleben hing davon ab, dass sie die Tiere und Pflanzen, von denen sie sich ernährten, genauestens kannten. Die landwirtschaftliche Revolution läutete auch keine Ära des angenehmen Lebens ein, ganz im Gegenteil, der Alltag der Bauern war härter und weniger befriedigend als der ihrer Vorfahren. Die Jäger und Sammler ernährten sich gesünder, arbeiteten weniger, gingen interessanteren Tätigkeiten nach und litten weniger unter Hunger und Krankheiten. Mit der landwirtschaftlichen Revolution nahm zwar die Gesamtmenge der verfügbaren Nahrung zu, doch die größere Menge an Nahrungsmitteln bedeutete keineswegs eine bessere Ernährung oder mehr Freizeit. Im Gegenteil, die Folgen waren eine Bevölkerungsexplosion und die Entstehung einer verwöhnten Elite. Im Durchschnitt arbeiteten die Bauern mehr als die Jäger und Sammler und bekamen zum Dank eine ärmere Kost. Die landwirtschaftliche Revolution war der größte Betrug der Geschichte.
Aber wer hat diesen Betrug zu verantworten? Es waren weder Könige noch Priester oder Händler. Die Schuldigen waren eine Handvoll Pflanzenarten, zum Beispiel Weizen, Reis und Kartoffeln. In Wirklichkeit waren es diese Pflanzen, die den Homo sapiens domestizierten, nicht umgekehrt.
Sehen wir uns die landwirtschaftliche Revolution einmal aus der Sicht des Weizens an. Vor zehntausend Jahren war der Weizen nur eines von vielen Wildgräsern, das nur im Nahen Osten vorkam. Innerhalb weniger Jahrtausende breitete er sich von dort über die gesamte Welt aus. Nach den Überlebens- und Fortpflanzungsgesetzen der Evolution ist der Weizen damit eine der erfolgreichsten Pflanzenarten
Weitere Kostenlose Bücher