Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
beispielsweise überzeugte Individualisten. Wir glauben, dass jeder von uns einmalig ist und dass unser Wert nicht davon abhängt, was andere von uns denken. Jeder von uns trägt einen einmaligen Funken in sich, der unserem Leben einen Sinn gibt und es wertvoll macht. In unseren Schulen bringen wir unseren Kindern bei, Hänseleien durch Mitschüler einfach zu ignorieren: Unser wahrer Wert ist nicht von der Meinung anderer abhängig. In unseren Häusern verlässt diese Vorstellung unsere Köpfe und nimmt Formen aus Stein und Mörtel an. Ein modernes Wohnhaus ist in viele kleine Zimmer aufgeteilt, damit jedes Kind seinen eigenen Raum bekommt, in dem es seine Unabhängigkeit ausleben kann. Dieses Zimmer hat eine Tür, und in vielen Familien ist es gängige Praxis, dass die Kinder ihre Tür schließen und vielleicht sogar abschließen. Selbst die Eltern dürfen nicht eintreten, ohne vorher anzuklopfen. Das Zimmer wird ganz nach den Vorstellungen des Kindes dekoriert, angefangen bei den Postern von Popstars an den Wänden bis zu den schmutzigen Socken auf dem Fußboden. Wer in einem solchen Raum aufwächst, kommt gar nicht umhin, sich als »Individuum« zu begreifen, das sich allein durch seine inneren Werte auszeichnet.
Die Adeligen des Mittelalters hätten dagegen mit dem Begriff Individualismus nichts anfangen können. Ihr Wert hing von ihrer Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung und von ihrem Ansehen in der Gesellschaft ab. Ausgelacht zu werden galt als tödliche Beleidigung. Adelige brachten ihren Kindern bei, ihren guten Namen zu verteidigen, auch wenn sie dabei ihr Leben aufs Spiel setzten. Wie der moderne Individualismus verließ das mittelalterliche Wertesystem die Köpfe der Menschen und nahm in den mittelalterlichen Burgen Gestalt an. Diese Burgen hatten keine privaten Zimmer, weder für Kinder noch für sonst jemanden. Ein junger Baron hatte kein eigenes Kinderzimmer im zweiten Stock mit Prinz Löwenherz- und König Artus-Postern an den Wänden und einer verschlossenen Tür, die auch Papi und Mami nicht öffnen durften. Ein junger Baron schlief vielmehr zusammen mit anderen jungen Männern in der großen Halle. Er hatte keinen eigenen Raum, in den er sich zurückziehen konnte. Er war immer sichtbar und wusste nicht, was Individualismus bedeutete. Wer unter diesen Bedingungen aufwuchs, kam automatisch zu dem Schluss, dass sein Wert von seiner gesellschaftlichen Stellung und der Meinung anderer abhing. 43
2. Die erfundene Ordnung prägt unsere Wünsche. Unsere Wünsche sind das wichtigste Bollwerk der erfundenen Ordnung. Die meisten Menschen wollen nicht glauben, dass die Ordnung, die ihr Leben bestimmt, ein Fantasieprodukt ist, denn diese Ordnung beherrscht und prägt ihre tiefsten Sehnsüchte.
Jeder von uns wird in eine bereits bestehende Ordnung hineingeboren, und von Geburt an wird jeder unserer Wünsche durch die Mythen dieser Ordnung vorgegeben. Als Angehörige der westlichen Kultur werden unsere größten Herzenswünsche heute durch romantische, nationalistische, kapitalistische und humanistische Mythen geprägt, die bereits seit Jahrhunderten fest verankert sind. Wenn uns Freunde einen Rat geben, dann sagen sie oft: »Hör auf dein Herz!« Aber das Herz ist ein Doppelagent, der seine Anweisungen von den Mythen unserer Gesellschaft entgegennimmt. Der Rat »Hör auf dein Herz« ist selbst schon ein Glaubenssatz, der uns von einer Mischung aus romantischen Mythen des 19. und den Mythen der Konsumgesellschaft des 20. Jahrhunderts eingebläut wurde. Wie lautete doch gleich der Werbeslogan von Coca-Cola? »Ca n ’t beat the feeling.« Gefühl geht über alles.
Selbst unsere scheinbar persönlichsten Wünsche werden von der erfundenen Ordnung vorgestanzt. Nehmen wir beispielsweise den verbreiteten Wunsch, im Ausland Urlaub zu machen. Dieser Wunsch ist weder natürlich noch naheliegend. Das Alphamännchen einer Schimpansenhorde käme nie auf den Gedanken, sich erst zu verausgaben, um dann im Territorium einer anderen Schimpansehorde auszuspannen. Die Elite des alten Ägypten verwendete ihre Vermögen darauf, Pyramiden zu bauen und sich in teuren Sarkophagen tief in ihrem Innern begraben zu lassen, und sie wäre nie auf die Idee gekommen, die Sommerferien in Babylon zu verbringen oder im Winter in Phönizien Ski zu laufen. Wenn wir heute eine Menge Geld für Auslandsurlaube ausgeben, dann nur deshalb, weil wir echte Anhänger der Mythen des romantischen Konsumismus sind.
Der romantische
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