Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
abzubauen. Ist das widernatürlich?
Biologisches und gesellschaftliches Geschlecht
Es hat daher wenig Sinn zu behaupten, dass die natürliche Bestimmung der Frau darin bestehe, Kinder zu bekommen, oder dass Geschlechtsverkehr zwischen Männern unnatürlich sei. Und noch sinnloser wäre es, Männer und Frauen zwingen zu wollen, ihren natürlichen Bestimmungen nachzukommen – können sie denn überhaupt etwas anderes? Die meisten Gesetze, Regeln, Rechte und Pflichten, die Männlichkeit und Weiblichkeit definieren, haben mehr mit der menschlichen Fantasie zu tun als mit der biologischen Wirklichkeit.
Aus biologischer Sicht unterscheiden wir zwischen Menschen männlichen und weiblichen Geschlechts. Ein männlicher Homo sapiens hat ein X- und ein Y-Chromosom, eine weibliche Vertreterin der Art hat zwei X-Chromosome. Aber mit den Begriffen »Mann« und »Frau« bezeichnen wir keine biologischen, sondern gesellschaftliche Kategorien. Man könnte jetzt meinen, das sei doch dasselbe, doch die Wirklichkeit ist komplizierter. Ein »Mann« ist eben kein Sapiens mit bestimmten biologischen Eigenschaften wie einem X- und einem Y-Chromosom, Hoden und einer Menge Testosteron im Blut. Ein Mann ist vielmehr ein männlicher Angehöriger einer erfundenen menschlichen Geschlechterordnung. Die Mythen der jeweiligen Gesellschaft weisen ihm bestimmte Rollen zu (zum Beispiel die Teilnahme an der Politik), verleihen ihm Rechte (zum Beispiel das Wahlrecht) und Pflichten (zum Beispiel den Militärdienst). Und eine »Frau« ist kein Sapiens mit zwei X-Chromosomen, einer Gebärmutter und einer Menge Östrogen im Blut. Ein Frau ist vielmehr eine weibliche Angehörige einer erfundenen menschlichen Ordnung. Die Mythen ihrer Gesellschaft weisen ihr einmalige weibliche Rollen zu (zum Beispiel die Kindererziehung) und geben ihr bestimmte Rechte (zum Beispiel Schutz vor Gewalt) und Pflichten (zum Beispiel Gehorsam gegenüber dem Ehemann). Da die Rollen durch Mythen und nicht durch die Biologie bestimmt werden, kann sich die Bedeutung der Begriffe »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« von einer Gesellschaft zur anderen ganz erheblich unterscheiden.
Wissenschaftler sprechen daher von »biologischem Geschlecht« und »gesellschaftlichem Geschlecht«. Das biologische Geschlecht unterscheidet zwischen Mann und Frau; es ist objektiv und hat sich im Laufe der Geschichte nicht verändert. Das gesellschaftliche Geschlecht unterscheidet dagegen zwischen männlichen und weiblichen Eigenschaften; diese Eigenschaften sind intersubjektiv und befinden sich in ständigem Wandel. So wurden zum Beispiel von den Frauen im antiken Athen ganz andere Verhaltensweisen, Wünsche, Bekleidungsformen und selbst Körperhaltungen erwartet als von den Frauen im modernen Athen. 54
Frau = biologisches Geschlecht
Frau = gesellschaftliches Geschlecht
Antikes
Athen
Modernes
Athen
Antikes
Athen
Modernes
Athen
Zwei X-Chromosome
Zwei X-Chromosome
Kein Wahlrecht
Wahlrecht
Gebärmutter
Gebärmutter
Kann nicht Richterin
werden
Kann Richterin werden
Keine Hoden
Keine Hoden
Kann keine Ämter
bekleiden
Kann Ämter
bekleiden
Wenig
Testosteron
Wenig
Testosteron
Kann Ehemann nicht
frei wählen
Kann Ehemann
frei wählen
Viel Östrogen
Viel Östrogen
Keine Schulbildung
Schulbildung
Kann Milch
produzieren
Kann Milch
produzieren
Vor dem Gesetz
Eigentum ihres Vaters
oder Mannes
Vor dem Gesetz
unabhängig
identisch
große Unterschiede
Das biologische Geschlecht ist Kinderkam, aber das gesellschaftliche Geschlecht ist eine todernste Angelegenheit. Nichts ist einfacher, als biologisch ein Mann zu werden: Man wird mit einem X- und einem Y-Chromosom geboren, und fertig. Eine Frau zu werden, ist nicht schwieriger: Ein Paar von X-Chromosomen reicht vollkommen aus. In der Gesellschaft die Rolle als Mann oder Frau zu erlernen, ist dagegen eine komplizierte und anstrengende Sache. Da die meisten männlichen und weiblichen Eigenschaften nicht angeboren sind, sondern erlernt werden müssen, wird nicht automatisch jeder biologische Mann auch in den Augen der Gesellschaft ein Mann, und nicht jede biologische Frau wird von der Gesellschaft als Frau anerkannt. Daher verbringen Männer ihr ganzes Leben damit, ihre Männlichkeit in endlosen Kämpfen unter Beweis zu stellen. Und Frauen müssen sich und anderen demonstrieren, dass sie weiblich genug sind.
Der Erfolg ist keineswegs garantiert. Vor allem Männer müssen immer um ihre Männlichkeit fürchten. Seit urdenklichen Zeiten sind sie bereit, sogar ihr Leben
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